85 Prozent von Port-au-Prince sind unter der Fuchtel von kriminellen Banden. Mehr als eine Million Menschen wurden von ihnen vertrieben. Besuch in einem Flüchtlingslager. Von Toni Keppeler, Port-au-Prince.
«Als wir sahen, dass sie kamen, begann auch schon die Schiesserei. Wir haben unsere Taschen geschnappt und sind losgerannt. Mein Bruder und der Vater meiner Kinder haben noch versucht, sie aufzuhalten. Sie wurden beide erschossen.» Judith, die ihren Nachnamen nicht nennen will, erzählt ihre Geschichte fast teilnahmslos, in knappen Sätzen und scheinbar ohne Emotionen. Die stämmige 45-Jährige in schwarzem T-Shrit und Jeans mit Löchern an den Knien war Strassenhändlerin in Solino, einem Stadtteil in den Hügeln von Port-au-Prince. Er galt lange als verhältnismässig sicher. Im Oktober vergangenen Jahres aber wurde er von Viv ansanm (deutsch: Zusammen leben) eingenommen, einem losen Zusammenschluss von über einem Dutzend krimineller Banden. Seither lebt Judith zusammen mit ihren vier Kindern in einem Flüchtlingslager.
Die Menschen in Solino haben sich lange gegen die Banden gewehrt. In dem Stadtteil wohnten viele Polizisten, Militärs und Mitarbeiter von privaten Sicherheitsdiensten. Sie hatten eine Bürgerwehr aufgebaut, wie es sie in vielen noch nicht von Banden kontrollierten Gegenden der Hauptstadt Haitis gibt. Diese Gruppen nennen sich Bwa kale, ein derber Ausdruck der Gassensprache, der sich frei mit «fick dich» übersetzen lässt. Sie riegeln nachts ihre Viertel ab, und wenn sie jemanden erwischen, den sie für ein Bandenmitglied halten, lynchen sie ihn. Sie erschlagen ihn mit Macheten, übergiessen die Leiche mit Benzin und zünden sie an. Solino wurde so über ein Jahr lang erfolgreich gegen Angriffe der Banden verteidigt. «Trotzdem waren wir alle auf eine Flucht vorbereitet», erzählt Judith. Es habe immer wieder Drohungen gegeben, man habe ihnen bedeutet, sie sollten verschwinden. «Nachts haben wir kaum geschlafen, und wir hatten unsere Kleider und die wichtigsten Papiere immer in grossen Plastiktaschen verpackt, um jederzeit wegrennen zu können.»
Dann kamen die Polizei und die Armee mit zehn gepanzerten Fahrzeugen. Bwa kale konnte sich zurückziehen. Fast einen Monat lang. Was dann am 16. Oktober geschah, kann niemand richtig erklären. «Eines morgens waren die Sicherheitskräfte samt ihren gepanzerten Fahrzeugen weg», erzählt Lario Clifford. Der vollbärtige 31-Jährige im ärmellosen roten T-Shirt und knielanger Sporthose hat seine schwarzen Haare zu einer Igelfrisur aufgetürmt. Er hatte einen kleinen Laden in Solino und war Mitglied des Stadtteilkommites. «Man erzählt sich, es habe Streit gegeben zwischen der Polizei und der Armee.» Die Armee untersteht dem Verteidigungsministerium, die Polizei dem für Justiz und öffentliche Sicherheit. Bei der Koordination der beiden Einheiten hapert es immer wieder. «Erst zogen die gepanzerten Fahrzeuge ab, dann folgten die Polizisten», sagt Clifford. «Sie fühlten sich alleine zu schwach, um einem Angriff standhalten zu können.» Anscheinend hatten die Banden nur darauf gewartet.
Solino war für Kriminelle kein besonders attraktives Quartier. Dort wohnten keine reichen Leute. Aber von Solino aus gelangt man in die hoch gelegenen Teile von Delmas, einem Stadtteil mit einer knappen halben Million Einwohner. Unten in der schmalen Küstenebene wohnen die Armen in Hütten, und oben in den Hügeln, wo die Luft besser und kühler ist, sind hinter hohen Mauern grosse Anwesen mit Pool im Garten versteckt. Hier können Schutzgelderpressung und Entführungen viel Geld einbringen. «Als alle Einwohner vertrieben oder tot waren, haben die Banden die Hütten angezündet und die solideren Häuser mit Gasflaschen gesprengt», erzählt Judith. Solino ist heute ein Trümmerfeld. Der Weg nach Delmas ist frei.
Rund 85 Prozent der Hauptstadt werden von kriminellen Banden kontrolliert. Mehr als eine der gut drei Millionen Einbwohner wurden vertrieben. Die meisten öffentlichen Schulen wurden zu Flüchtlingslagern umfunktioniert. In den wenigen noch einigermassen sicheren Gegenden drängen sich die Strassenhändler, dem chaotischen Verkehr bleibt oft nur eine Fahrspur. Nachdem im vergangenen November drei Passagierflugzeuge beim Landanflug von Banden beschossen wurden, ist der Flughafen geschlossen. Die Kriminellen kontrollieren zudem alle Zugangsstrassen zur Stadt. Gemüse und Obst, Reis, Bohnen und Fleisch kommen nur noch spärlich in die Stadt. Die Preise steigen so gut wie täglich, viele arme Leute können sich das nicht mehr leisten. Nach einer Erhebung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen herrscht in neun von zehn Haushalten in Port-au-Prince Hunger. Viele essen nur einmal am Tag und an manchen Tagen gar nicht. Die meisten Botschaften sind längst geschlossen, die Bürgerwehren von Bwa kale versperren nachts die Eingänge zu den noch freien Wohngegenden mit Eisengittern, Schrottautos und Barrikaden. Von neun Uhr am Abend bis um fünf Uhr in der Frühe herrscht eine faktische Ausgangssperre. Port-au-Prince ist eine belagerte Stadt.
Kriminelle Banden sind kein neues Phänomen in Haiti. François Duvalier, Diktator von 1957 bis zu seinem Tod 1971, hat mit den von ihm aufgebauten Schlägertrupps der sogenannten Tonton Macoutes seine Macht abgesichert. Sie terrorisierten die Bevölkerung und ermordeten Oppositionspolitiker und Intellekuelle. Mindestens 30.000 Menschen wurden in seiner Regierungszeit und der seines ihm nachfolgenden Sohnes Jean-Claude (1971 bis 1986) umgebracht, Millionen retteten sich ins Exil. Das Beispiel der Tonton Macoutes machte Schule. Viele Politiker arbeiteten und arbeiten immer noch mit kriminellen Banden zusammen. Sie haben diese Gangs oft selbst aufgebaut und mit Waffen ausgestattet. Die Kriminellen sollen Wahlsiege garantieren: Sie schüchtern die Wähler ein, schalten gegnerische Kandidaten aus und fackeln bei einer drohenden Wahlniederlage die Urnen ab.
Der Politiker, der dieses grausame Spiel am besten beherrschte, war Jovenel Moïse, Präsident Haitis von 2017 bis zu seinem gewaltsamen Tod am 7. Juli 2021. In Armenvierteln, in denen gegen ihn demonstriert wurde, richteten seine Banden Massaker mit Dutzenden von Toten an. Einkaufszentren oder Autohäuser von Geschäftsleuten, die seinen eigenen Geschäftsinteressen im Weg standen, liess er von seinen Handlangern niederbrennen. Der führende Kopf dieser Banden war der ehemalige Elitepolizist Jimmy Chérizier, den man Barbecue nennt, weil er seine Opfer oft verbrennt. Der nächtliche Mord an Moïse in seinem Bett in der Präsidentenresidenz ist bis heute nicht aufgeklärt. Es kann aber als sicher angenommen werden, dass die Auftraggeber unter einflussreichen Geschäftsleuten zu suchen sind, die unter den rabiaten Methoden des Präsidenten zu leiden hatten.
Mit Moïse hat Chérizier seine Geldquelle und seinen Auftraggeber verloren und arbeitet nun auf eigene Faust. Nicht nur seine, auch die meisten anderen Banden haben sich seither selbständig gemacht. Chérizier war es, der nach blutigen Kriegen um Einflussbereiche den Zusammenschluss Viv ansanm geschmiedet hat. Die Kriminellen leben inzwischen von Schutzgelderpressung und Entführungen. Und weil Haiti mit seinen kaum bewachten Küsten ein wichtiges Durchgangsland für Kokain auf dem Weg von Kolumbien in die USA ist, wird auch mit Drogenhandel viel Geld verdient. Dazu gibt es Hinweise darauf, dass ein paar Banden internationale Mafias von Organhändlern beliefern.
Die Polizei ist den Kriminellen waffentechnisch und personell unterlegen. Man schätzt die Zahl der Bandenmitglieder auf rund 12000. Die Polizei kann im besten Fall 9000 Einsatzkräfte mobilisieren, und die sind lange nicht alle in der Hauptstadt konzentriert. Sie haben oft nur einfache Flinten und wenig Munition, die Banden dagegen moderne Sturmgewehre und Maschinenpistolen. Viele Einsatzwagen sind schrottreif. Der Polizei steht zwar eine von den Vereinten Nationen organisierte internationale Polizeitruppe unter der Führung Kenias zur Seite. Die aber hat nicht die vereinbarte Stärke von 2500 Mann, sondern gerade einmal knapp tausend. Ihre Zukunft ist ungewiss. Die Interventionstruppe wurde bislang mit freiwilligen Beiträge finanziert, im Wesentlichen von der US-Regierung. Seit in Washington Donald Trump die Geschäfte führt, ist kein neues Geld mehr geflossen. Eine formelle Blauhelmtruppe, die dann über den UNO-Haushalt finanziert würde, scheitert an einem Veto von Russland und China.
Zwar gelingt es der Polizei immer wieder, gemeinsam mit den Bürgerwehren von Bwa kale in die Hochburgen der Banden einzudringen und dabei ein paar Dutzend ihrer Mitglieder zu erschiessen. Die staatlichen Sicherheitskräfte haben aber nicht die Stärke, um solche Gebiete dann auch zu halten. Oft wehren die Kriminellen Angriffe mit einer perfiden Strategie ab: «Sie zwingen die Kinder aus den Armenvierteln, als menschliche Schutzschilde voranzugehen», weiss Nadine Saint-Ilma, die sich für das regierungsunabhängige Haitianische Institut für Menschenrechte mit den Bandenkriegen befasst. «Kein Polizist will auf Kinder schiessen, aber die Banden schiessen hinter ihrem Schutz hervor auf die Polizisten.»
Lange haben sich die kriminellen Aktivitäten auf Port-au-Prince und das nördlich davon gelegene Artibonite-Tal begrenzt. In der Hauptstadt und in dem als Kornkammer des Landes geltenden Tal ist die wirtschaftliche Macht konzentriert. Dort sind Schutzgelderpressung und Entführungen lohnend. Im restlichen Land blieb es verhältnismässig ruhig. Seit ein paar Wochen aber gibt es Hinweise darauf, dass die Banden ihr Einzugsgebiet vergrössern wollen. Es gab immer wieder Überfälle im Süden und im Zentrum des Landes. Die rund 200000 Einwohner zählende Provinzstadt Léogâne, rund dreissig Kilometer südwestlich der Hauptstadt, wird inzwischen auch teilweise von Banden kontrolliert. Viele Vertriebene sind aufs Land geflohen. Wer dort noch Verwandte hat, geht nicht in die überfüllten Lager der Stadt, sondern zurück in die alte Heimat. Die Grossfamilie als solidarisches Auffangbecken funktioniert in Haiti noch immer. Das war nach dem schweren Erdbeben von 2010 so, und so ist es auch heute im Bandenkrieg.
Wer nicht aufs Land geflohen ist, dem bleiben nur die Flüchtlingslager. Die meisten wurden nicht von der Regierung eingerichtet, die Vertriebenen haben sie besetzt. «Wir respektieren Privateigentum», sagt Lario Clifford. «Wir besetzen nur öffentliche Gebäude. Der Staat müsste sich eigentlich um uns kümmern. Wenn er das nicht tut, gehen wir in seine Gebäude, das ist unser Recht.» Er und sein Nachbarschaftskommitee hatten sich schon vorher die Grundschule Republique de Colomie im gleichnamigen Stadtviertel als mögliche Notunterkunft ausgesucht.
Sie besteht aus acht Klassenzimmern, die in zwei langgestreckten Gebäuden aneinandergereiht sind, dazwischen ein schmaler Gang; dazu ein Gebäude mit den Lehrerzimmern und ein kleiner Schulhof. Überall hängt Wäsche zum Trocknen. Es gibt zwei Toilettengebäude, die man von weitem riecht; eines für Männer, das andere für Frauen. Der Boden ist betoniert. Die Gebäude haben ein Wellblechdach, unter dem sich die Hitze des Tages staut. Über dem kleinen Platz haben die Besetzer Plastikplanen gespannt. Darunter spielen am Tag die Kinder. Am Rand sitzen ein paar Strassenhändlerinnen und haben ihre Ware ausgebreitet. Kekse und Knabberzeug, Kartoffeln, Avocados und ein paar Mangos. «Ab und zu kommt irgend ein Hilfwerk vorbei und bringt ein paar Säcke mit Reis und Bohnen», sagt Clifford. «Aber darauf können wir uns nicht verlassen.» Jeder müsse sich selbst um sein Überleben kümmern. Viele gehen deshalb am Tag auf die Strasse und suchen nach irgendeinem Gelegenheitsjob.
In den Abendstunden kommt es oft zu Wolkenbrüchen «Wenn es regnet, fliesst das Wasser in alle Zimmer», erzählt Clifford. «Wir müssen dann erst alles aufwischen, bevor wir schlafen können.» 1145 Menschen aus 415 Familien sind in der Schule untergekommen. In der Nacht, wenn alle da sind, ist es so eng, dass man auf Körperkontakt schläft. Manche haben eine Matratze, andere schlafen auf Decken oder Pappkartons. Vor dem Lehrerzimmer stapeln sich weit über hundert weisse Plastikeimer. Wenn es Wasser gibt, werden sie gefüllt. Immer wieder bleiben die Leitungen in den Klohäuschen für ein paar Tage trocken.
Judith hat die erste Nacht nach ihrer Flucht mit ihren vier Kindern auf der Strasse verbracht. Sie und die beiden sechzehn und siebzehn Jahre alten Mädchen blieben wach, um ihre wenigen Habseligkeiten zu bewachen. Nur das dreijährige Mädchen und der sechsjährige Junge durften schlafen. «Am nächsten Tag habe ich dann erfahren, dass alle meine Nachbarn in dieser Schule sind». Seither lebt sie mit ihrer Familie und vielen anderen in einem Klassenzimmer. An den Tagen nach ihrer Ankunft seien nach und nach die Leichen aus Solino in die Schule gebracht worden, auch die ihres Vaters und ihres Mannes. «Wir haben sie auf dem nächstgelegenen Friedhof begraben.» Judith hat sich in ihr Schicksal ergeben. Pläne für die Zukunft hat sie nicht. «Wir leben von einem Tag auf den anderen. Wenn es regnet, ist es besonders schlimm», sagt sie. Die Hoffnung, dass es eines Tages besser werden könnte, «die habe ich längst verloren».
«Es wird ein langer kontinuierlicher Kampf»
Wie Patrick Pélissier, Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit, der Gewalt krimineller Banden Herr werden will. Interview: Toni Keppeler

Frage: Patrick, du warst in den vergangenen zwanzig Jahren Menschenrechtsanwalt. Nun bist du ausgerechnet zu einer Zeit Justiz- und Sicherheitsminister geworden, in der rund 85 Prozent der Hauptstadt von kriminellen Banden kontrolliert werden, in der es täglich zu Feuergefechten kommt und in der die Polizei, deren Chef du bist, besonders viele Menschen tötet. Hast du die Seite gewechselt?
Patrick Pélissier: Das mag so aussehen, aber im Grund mache ich dasselbe wie zuvor, nur von einem anderen Ort aus. Ich habe das Glück, mit Alix Didier Fils-Aimé einen Premierminister zu haben, der Veränderungen will, und das gibt mir die Möglichkeit, es zumindest zu versuchen, etwas zum Besseren zu wenden. Ich habe dabei drei Prioritäten. Die erste ist es, wieder öffentliche Sicherheit herzustellen. Die zweite sind Wahlen und eine Reform der Verfassung, und die dritte besteht darin, Gerichte wieder handlungsfähig zu machen. Wir brauchen Untersuchungsrichter und Gerichte, die nicht nur die materiellen Täter der grossen Verbrechen ins Gefängnis bringen, sondern auch deren Hintermänner und Auftraggeber. Sie müssen in der Lage sein, auch Geldwäsche und andere Finanzverbrechen aufzuklären.
Frage: Was die Sicherheit angeht, sieht es derzeit schlecht aus. Es gibt Spekulationen darüber, ob Port-au-Prince nicht demnächst ganz in die Hände der Banden fallen wird.
Pélissier: Wir sind dabei, die Polizei zu verstärken. Nicht nur mit mehr Personal, sondern auch mit speziellen Einheiten für geheimdienstliche und für Aufklärungsarbeit. Es geht nicht nur um Manpower, es geht auch um mehr technisches Wissen. Wir bilden derzeit 729 neue Polizisten aus. Dazu sollen in den nächsten drei Monaten 3000 neue Soldaten kommen. Sie werden in Brasilien dazu ausgebildet, kriminelle Banden zu bekämpfen.
Frage: Man geht von rund 12000 Bandenmitgliedern aus, von denen etwa die Hälfte Kinder sind. Ich verstehe nicht, warum es so schwer sein soll, 6000 junge Männer und 6000 Kinder zu bekämpfen.
Pélissier: Diese Zahlen sind Schätzungen und ich weiss nicht, ob sie richtig sind. Richtig ist, dass ein grosser Teil der Bandenmitglieder jünger als 18 Jahre ist. Das eigentliche Problem aber ist, dass die Banden Waffen haben, die die Polizei nicht hat. Sie haben Waffen, mit denen sie gepanzerte Militärfahrzeuge aufhalten können. Sie haben eine Offensivkraft, die wir nicht haben.
Frage: Wo kommen diese Waffen her?
Pélissier: Über die Grenze aus der Dominikanischen Republik und über das Meer. Kolumbien ist von unserer Südküste gerade einmal zwei Stunden entfernt. Auch von dort kommen viele Waffen ins Land. Wir haben nun ein Abkommen mit der kolumbianischen Regierung: Sie will ihre Küste besser überwachen und auch uns mit entsprechenden Booten ausstatten. Wenn es uns gelingt, den Waffennachschub zu unterbinden, werden die Banden schwächer werden. Dann haben wir eine Chance.
Frage: Wo kommt das Geld für die Waffen der Banden her?
Pélissier: Das Geld bringen sie inzwischen selbst auf. Sie sind nicht mehr abhängig von den Politikern, die sie einst aufgebaut haben. Sie sind heute autonom. Eine grosse Einnahmequelle von ihnen ist der Drogenhandel, eine andere der Organhandel. Dazu kommen Entführungen und Schutzgelderpressung.
Frage: Gerüchte über Organhandel gibt es immer wieder. Aber dafür braucht es eine medizinische Infrastruktur, die haitianische Krankenhäuser nicht haben. Gibt es Beweise?
Pélissier: Wir haben mehr als ein Dutzend Leichen ohne Organe gefunden. Und wir haben erst vor kurzem einen Chirurgen verhaftet, der von einer Bande entführt worden ist. Er hat verwundete Bandenmitglieder behandelt und sollte auch Entführungsopfern Organe entnehmen. Er erzählte uns, er sei erstaunt gewesen über die Installationen, die sie haben. Organhandel ist ein internationales Geschäft, in dem viel Geld bewegt wird. Diese Netzwerke haben die Mittel, ihr eigenes Krankenhaus einzurichten.
Frage: Haben die Banden neben kriminellen auch politische Ziele? Der Bandenchef Jimmy Chérizier behauptet, seine Koalition Viv ansanm aus verschiedenen Gangs sei eine politische Partei.
Pélissier: Ich sehe keine politischen Ziele. Was die Banden wollen, ist Kontrolle über ihre Territorien. Dort haben sie auch so etwas wie ein Justizsystem. Um dir ein Beispiel zu geben: Viele Frauen in diesen Stadtvierteln werden vergewaltigt. Wenn nun der Chef einer Bande Interesse an dem Opfer einer Vergewaltigung hat, wird der Täter erschossen. Ist ihm das Opfer egal, passiert nichts. Das ist ein Justizsystem von Gangstern. Das hat nichts mit Politik zu tun, sondern mit Kontrolle über ein Territorium. Eben deshalb müssen wir sie in ihren Hochburgen bekämpfen und nicht nur, wenn sie herauskommen. Wir müssen dorthin gehen, wo sie sind.
Frage: Zusammengefasst ist deine Strategie also, den Banden den Waffennachschub abzuschneiden und sie dann mit mehr und besser ausgebildetem Personal in ihren Stammgebieten angreifen.
Pélissier: Es kommt noch ein dritter Schritt dazu: Unser DDR-Programm: Disarmament, Demobilization and Reintegration (Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung). Die Regierung hat beschlossen, ein Zentrum aufzubauen, in dem die Kinder aus den Banden aufgenommen werden sollen.
Frage: Wie kommt ihr an sie heran?
Pélissier: Wir arbeiten eng mit Sozialarbeitern zusammen und wir wissen, dass es viele Kinder gibt, die die Banden verlassen wollen. Aber wenn sie in von Banden kontrollierten Gegenden wohnen, haben sie keine andere Wahl. Die Banden verlangen, dass sie mitmachen, und es gibt keine Institution, die sie auffangen könnte. Eine solche Institution müssen wir schaffen.
Frage: Was kannst du den Kindern anbieten?
Pélissier: Zunächst einmal einen Ort, an dem sie bleiben können. Wir müssen ihnen Bildung mitgeben und die Chance, eine eigene Zukunft ohne Banden aufbauen zu können. Die jüngeren werden wir in die Schule schicken, die älteren sollen ein Handwerk lernen.
Frage: Die Übergangsregierung soll am 7. Februar kommenden Jahres von einem gewählten Präsidenten abgelöst werden. Diese Zeit wird für deine Vorhaben kaum ausreichen.
Pélissier: Es wird ein langer kontinuierlicher Kampf werden. Die Banden sind nicht vom Himmel gefallen. Sie konnten so stark werden, weil es in diesem Land keine soziale Gerechtigkeit gibt, weil es viel zu wenige Möglichkeiten gibt, sein eigenes Leben aufzubauen und ehrlich sein Geld zu verdienen. Solange wir dieses Problem nicht gelöst haben, werden Banden immer möglich sein. Wir können Veränderungen nur anstossen.
Frage: Machen Wahlen in so einem Umfeld überhaupt Sinn?
Pélissier: Natürlich können wir keine Wahlen in Gebieten von Banden organisieren. Aber sieh mal: Diese Regierung hat ihre Legitimität auf Grund eines Kompromisses zwischen verschiedenen politischen Gruppen. Die letzte gewählte Regierung war die von Jovenel Moïse. Die Wahlbeteiligung lag unter zwanzig Prozent. Der Präsident wurde mit einer halben Million Stimmen gewählt. Wenn wir es schaffen, Wahlen in den acht Departements zu organisieren, die nicht von Banden kontrolliert werden, bekommen wir vielleicht einen Präsidenten, der mit einer Million Stimmen gewählt wird. Er wird dann mehr Legitimität haben als Moïse. Wir haben keinen anderen Weg.
April 2025