In Venezuela sind die einen ohne Hoffnung, andere halten trotzig durch. Eindrücke von Armut und absurdem Reichtum in einem Land in tiefer Krise. Von Toni Keppeler (Text) und Andrés Vanegas Canosa (Fotos).
Venezuela ist ein seltsames Land geworden, widersprüchlich, bisweilen fast absurd. Da wird von einer humanitären Katastrophe gesprochen, von an die neunzig Prozent der Bevölkerung, die in Armut leben, von politischer Konfrontation und Repression. Es gibt einen Präsidenten und einen zweiten, der sich mit einer fadenscheinigen Berufung auf die Verfassung selbst zum amtierenden Präsidenten ernannt hat, obwohl er keine Macht hat. Er wurde trotzdem von an die fünfzig Staaten als solcher anerkannt. Nach dem Verfassungsartikel, auf den er sich beruft, ist seine einzige Aufgabe, innerhalb von dreißig Tagen Neuwahlen zu veranstalten. Diese dreißig Tage sind längst verstrichen und trotzdem geriert er sich noch immer als Staatschef.
An den Wochenenden sind die Strände im karibischen Küstenstaat Vargas gut besucht, auf den Märkten der Hauptstadt Caracas gibt es Früchte und Gemüse, so viel man will. In den Shopping Malls im Reichenviertel Las Mercedes sind die Geschäfte von Zara, Lacoste und Montblanc geöffnet. Während des in manchen Gegenden mehr als eine Woche dauernden Stromausfalls im März wurden in der Erdöl-Metropole Maracaibo im Westen des Landes über fünfhundert Läden geplündert, bei Schießereien kamen an die fünfzig Menschen ums Leben. In der Hauptstadt aber schlugen nur verzweifelte Hausfrauen protestierend mit Kochlöffeln auf Töpfe, weil mit dem Stromnetz auch ein Großteil der Wasserversorgung zusammengebrochen war und die Versorgung mit Gas stockte.
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Schon die Ankunft auf dem internationalen Flughafen Simón Bolívar in der Küstenebene ist bemerkenswert. Nur ein paar betagte Maschinen lokaler Fluggesellschaften stehen auf dem Rollfeld, kaum eine internationale Linie fliegt mehr Venezuela an. Weil es keinen Strom gibt, kann die Fluggastbrücke nicht ans Flugzeug angedockt werden. Stattdessen schieben Arbeiter eine wackelige Stiege an die Tür. In der Abfertigungshalle stehen die Rolltreppen still, die Bildschirme in der Passkontrolle sind schwarz. Die Angestellten der Einwanderungsbehörde kopieren im Schummerlicht die Daten aus dem Pass von Hand auf ein Stück Papier. Im Zoll sind die Röntgengeräte ausgefallen, niemand will etwas sehen.
Auf dem Weg hinauf ins 900 Meter höher gelegene Caracas stehen Menschentrauben am Rand der Autobahn; überall dort, wo Wasser in kleinen Rinnsalen aus den Berghängen tritt. Sie sammeln es in Flaschen und Plastikkanistern. Wir fahren an eine Tankstelle und füllen den Tank. Dem Tankwart bezahlen wir ein kleines Trinkgeld – zehn sogenannte „souveräne Bolivares“, umgerechnet etwa ein Viertelcent. Benzin war schon immer spottbillig im Ölstaat Venezuela, jetzt ist es gratis. Wie soll man auch bezahlen? Es zirkuliert kaum Bargeld, weil die erst im August vergangenen Jahres eingeführten Scheine knapp und so gut wie wertlos sind. Banken geben höchstens 2.000 dieser Bolivares als Bargeld aus – gerade einmal 60 Cent. Von Geldautomaten bekommt man nur 500 Bolivares.
Die Kosten dieser Recherchereise wurden mit der Debitkarte von Lisbeth Ordoñez bezahlt. Damit diese akzeptiert wurde, musste ihr vor fünf Jahren abgelaufener Personalausweis vorgelegt werden. Wir kennen Lisbeth Ordoñez nicht. Sie lebt seit fast einem Jahr in New York und arbeitet dort in einem Restaurant. Eine Informantin hat uns den Zugriff auf ihr Konto zur Verfügung gestellt. Selbst fliegende Straßenhändler haben Lesegeräte für Debitkarten. Man muss nur US-Dollars in Bolivares tauschen und damit das entsprechende Konto füllen. Ein eigenes zu eröffnen, würde einen langen und kostspieligen bürokratischen Prozess erfordern und ist ohne Aufenthaltsgenehmigung ohnehin nicht möglich.
Um Dollars zu tauschen, stellt man ein Angebot in eine der dafür eingerichteten Whatsapp-Gruppen und wartet auf Nachfrage. Am frühen Morgen gibt es noch unterschiedliche Wechselkurse, im Lauf des Tages pendeln sie sich auf einen Wert ein. Beim ersten Geldwechsel gilt ein Kurs von 3.000 Bolivares für einen Dollar. Der Geldhändler wohnt in einem Mittelklasseviertel. Mit seinem Mobiltelefon überweist er die Bolivares auf das angegebene Konto. Wenn die Bestätigung der Bank über den Geldeingang auf dem Bildschirm aufleuchtet, werden die Dollars an der Haustür ausgehändigt. Der Mann spekuliert auf den weiteren Verfall des Bolívars, das ist sein Geschäft. Aber nicht nur Geld wird über Whatsapp-Gruppen gehandelt, auch Mehl, Eier und Zahnpasta, Autoersatzteile und Medikamente. Ohne Mobiltelefon und Debitkarte ist man verloren in Venezuela.
Präsident Nicolás Maduro dachte im August vergangenen Jahres, er könne die rasende Inflation mit einer Währungsreform in den Griff bekommen. Aus 100.000 alten Bolivares wurde ein neuer, der „souveräne“. Doch die Inflation beschleunigte sich weiter und liegt inzwischen bei rund zwei Millionen Prozent im Jahr.
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Maduro ist in Caracas aufgewachsen, im Stadtteil Coche, einem Quartier der unteren Mittelschicht mit Wohnsilos aus Beton, die an die Sowjetunion erinnern. Keine zweihundert Meter entfernt von der Schule, die er besucht hat, wohnt Cyntya Osío in einem 14-stockigen Gebäude. Die Wohnung ist mit dicken Eisengittern gesichert, es werde viel gestohlen. Die kleine rundliche Frau, 36 Jahre alt, ist Schulpsychologin. Das einzig gute an der seit vier Jahren andauernden Krise, sagt sie, sei die „Maduro-Diät“. Sie sei richtig dick gewesen und habe endlich ein paar Kilo abgenommen. Mit ihr im geräumigen Drei-Zimmer-Appartment wohnen ihre Kinder Arón, 6, und Paulina, 3, und ihr Mann Cruz. Er ist gross, drahtig und schweigsam und war früher von harten Drogen abhängig. Nach einer Entziehungskur arbeitet er wieder, als Wächter in einem staatlichen Transportunternehmen. Auch für ehemalige Drogenabhängige habe die Krise ihre gute Seite, sagt Cyntya. „Ein Rückfall von Cruz ist unmöglich, die Drogen sind viel zu teuer.“
Sie verdient 20.400 Bolivares im Monat, umgerechnet gut sechs Euro und ein bisschen mehr als der gesetzliche Mindestlohn. Ihr Mann bekommt noch einmal soviel. Weil sie sich die Vaterlandskarte besorgt hat – eine Art Ersatz für den Personalausweis –, bekommt sie weitere Gratifikationen: zum Karneval, in der Osterwoche, zu Weihnachten; insgesamt fünf Mal im Jahr gibt es zusätzlich ein bisschen Geld. Zusammengenommen hat die Familie so Einkünfte von rund 50.000 Bolivares im Monat. Mit der Vaterlandskarte weiß der Staat aber auch, wieviele Menschen in der Wohnung wohnen, wo sie arbeiten, was sie verdienen und ob sie gewählt haben. „Natürlich gab es da vor der letzten Wahl Druck“, erzählt Cyntya. „Man sagte uns, wenn wir nicht für Maduro stimmen, würden wir die Vergünstigungen verlieren.“ Eben deshalb lehnen viele, die es sich leisten können, die Vaterlandskarte ab.
Die Familie von Cyntya erhält jeden Monat das sogenannte Clap. Ausgeschrieben und übersetzt steht die Abkürzung für das „lokale Komitee für Versorgung und Produktion“. Wer Clap sagt, meint damit jedoch nicht die staatliche Organisation, sondern einen großen Karton voller Lebensmittel: Mehl, Reis, Bohnen, Nudeln, Zucker, Speisseöl und in den vergangenen Monaten vor allem Linsen, viele Linsen, importiert aus Kanada. Die Familie von Cyntya hat Linsen satt. Aber immerhin: Clap deckt den überlebensnotwendigen Lebensmittelbedarf für einen Monat und kostet gerade 700 Bolivares. Hühnchen, Eier und ein bisschen Gemüse vom Komitee gibt es nur alle paar Monate. Dafür und für alles andere – Obst, Gemüse, Hygieneartikel – muss die Familie auf den freien Markt ohne regulierte Preise. Dort kostet ein Kilo Fisch 10.000 Bolivares und mehr, ein Kilo Obst um die 5.000. „Früchte sind ein absoluter Luxus“, sagt Cyntya. „Und wenn wir Shampoo kaufen, gibt es keine Zahnpasta und umgekehrt.“
Und wer ist Schuld an diesen Preisen? „Natürlich gibt es die Sanktionen der USA“, sagt Cyntya. Aber das Militär, das für die Verteilung der staatlichen Lebensmittel zuständig ist, verschiebe diese zu Wucherpreisen an private Händler und die verkauften sie dann zum dreifachen Preis weiter. „Wir sind auch selbst Schuld an der Krise, wir fressen uns gegenseitig auf.“ Unter Maduros Amtsvorgänger Hugo Chávez sei das anders gewesen. „Aber mit Chávez ist auch seine Revolution gestorben.“
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Wer angestellt ist und Lohn erhält, kommt nur mit vielen Einschränkungen über die Runden. Freiberufler und Händler, die sich auf dem unregulierten Parallelmarkt bewegen, sind besser dran. Yudelcy Díaz zum Beispiel, eine Friseuse, die ihre Kundinnen nur am Wochenende bei Hausbesuchen bedient und sich unter der Woche um ihre Kinder kümmert, kommt damit im Monat auf das dreifache Einkommen der Familie von Cyntya. Die 33-Jährige lebt mit ihren Kindern Ariannys, 12, Adrián, 9, und der knapp einjährigen Alejandra in Guatire, einer Vorstadt im Osten von Caracas. Ihr Mann kennt die Jüngste nur von gelegentlichen Skype-Gesprächen. Er hat vor einem guten Jahr seinen Job in einem Stuckateurbetrieb verloren und keinen anderen gefunden. So machte er sich auf nach Brasilien, wo er nun in einem Fischgeschäft aushilft. Er ist nicht aus bitterer Not gegangen, sondern aus Hoffnungslosigkeit.
Yudelcy ist eine lebenslustige zierliche Frau in Jeans und knappem T-Shirt, die während des Gesprächs immer wieder ihre Kleine an die Brust nimmt, um sie zu beruhigen. Auch sie bekommt das Clap-Paket, und sie hat von der Hyperinflation profitiert. Ihre große Drei-Zimmer-Wohnung liegt in einem modernen Komplex der sogenannten „misión vivienda“, einem vom 2013 verstorbenen Präsidenten Chávez lancierten Wohnungsbau-Programm, das Hundertausenden ein Heim gegeben hat. Sie ist 2014 eingezogen. Die Wohnung kostete damals 460.000 alte Bolívares. Die Hälfte davon übernahm der Staat, für die andere Hälfte nahm sie einen ebenfalls vom Staat gestellten zinslosen Kredit auf. Mit der Währungsreform vom vergangenen August verwandelte sich ihre Schuld von 230.000 alten in 2,3 neue Bolivares – nach heutigem Wechselkurs weniger als ein Cent.
Von Maduro erwartet Yudelcy schon lange nichts mehr. „Er muss weg, das ist klar.“ Aber sie ist auch keine Anhängerin des Gegenpräsidenten Juan Guaidó. Auch der habe keinen Plan, wie das Land aus der Krise kommen könne. „Die da oben streiten sich, und wenn es eng für sie wird, setzen sie sich in ein Flugzeug und sind weg. Die Verarschten sind wir.“
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Hinter dem Wohnkomplex von Yudelcy franst der Großraum von Caracas langsam in Dörfer und ländliche Streusiedlungen aus. Abseits der großen Verbindungswege sind die engen Straßen von Schlaglöchern übersät oder haben nur noch einen Schotterbelag. El Rodeo, das erste Dorf im Osten von Guatire, ist bekannt wegen seines großen Gefängnisses. Und es ist gefürchtet wegen der vielen Schießereien und Überfälle am hellen Tag, die es dort schon gegeben hat. Tatsächlich macht der Ort keinen einladenden Eindruck. Er wirkt wie eine Außenstelle von Petare, dem grössten Armenviertel von Caracas, wo sich kleine Häuser aus roten Ziegelsteinen in engen verwinkelten Strassen den Hang entlang übereinander stapeln. Die Tante-Emma-Läden sind vergittert, wer auf der Straße geht, dreht sich alle paar Meter um, um sicher zu sein, nicht verfolgt zu werden.
„Ach was“, sagt Asdrubal López, der in der Hauptstraße von El Rodeo einen dieser kleinen Läden umtreibt. „Seit die Armee ein paar Mal gekommen ist, ist es hier sicher.“ Die Militärs hätten so zwanzig oder dreißig junge Männer erschossen, die nach ihrem Dafürhalten zu kriminellen Banden gehörten. Macht ihm das keine Angst? Nein, wer nichts Schlechtes tue, der habe nichts zu befürchten, sagt er. „Und wer Schlechtes tut, der sollte nicht an Grippe sterben.“
Asdrubal ist um die fünfzig, klein und sportlich. Er trägt Fussballerhosen und ein dazu passendes Leibchen, sein Resthaar hat er rappelkurz rasiert. Er zeigt Fotos von seinem Laden in vergangenen Tagen. Der war vollgestopft mit Lebensmitteln, Autoöl, Bier und Kola. Sogar Mobiltelefone hat er verkauft. Heute ist der Laden leer. Die Leute in El Rodeo haben kein Geld, um auf dem unregulierten Markt zu kaufen. Es bleibt ihm nur das Geschäft mit Mobiltelefonkarten und die brauchen alle in einer Ökonomie fast ohne Bargeld.
Sollte die Opposition die Macht übernehmen, glaubt Asdrubal, werde es auch nicht besser. „Die versucht nur, die Regierung auf Kosten des Volks zu stürzen“, sagt er. „Keiner von denen hat Vertrauen verdient.“ Die Opposition wolle nur die Erdölreserven an die USA verscherbeln und sich damit bereichern. Tatsächlich hat Guaidó davon gesprochen, dass er die von Chávez verstaatlichte Erdölindustrie privatisieren wolle. Aber es gebe eben auch Misswirtschaft und Korruption und das schon lange. „Seit Chávez dem Volk mehr Macht gegeben hat, hat sich das Volk alles genommen“, sagt Asdrubal. Trotzdem glaubt er, dass es die heutige Krise mit dem zupackenden Chávez so nicht gegeben hätte. „Aber Chávez ist tot.“
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Hugo Chávez ist an Krebs gestorben. Er hat sich in den Jahren vor seinem Tod in Kuba behandeln lassen, obwohl das damals auch in staatlichen Kliniken in Venezuela möglich gewesen wäre. Heute können sich nur noch sehr reiche Leute eine Krebstherapie in privaten Einrichtungen leisten. Im staatlichen onkologischen Krankenhaus Luis Razetti im Armenviertel San José de Cotiza in Caracas gibt es kaum Medikamente und deshalb nur wenige Patienten. Die Krankenzimmer in dem labyrinthartigen Kolonialgebäude sind zwar gut ausgestattet, selbst mit Flachbildschirmfernsehgeräten. Auch die nötigen Apparate, ein Notstromaggregat und ein grosser Wassertank sind vorhanden. Aber über die Hälfte der Betten sind leer, die Notaufnahme ist geschlossen. Operiert wird montags und dienstags, nur kleinere Eingriffe. Für größere fehlt es an allem, selbst an Skalpellen. Die Patienten müssen nicht nur die Medikamente, sondern auch alles andere auf dem Schwarzmarkt kaufen und mitbringen, erzählt eine Krankenschwester, die nicht genannt werden will: Spritzen, Watte, selbst Gummihandschuhe für die Ärzte.
Die Medikamente für eine Chemotherapie werden in Whatsapp-Gruppen derzeit für mehrere tausend Dollar angeboten, weiss die Krankenschwester. Sie werden vom Staat importiert, verschwinden dann aber aus der zentralen Verteilstelle und tauchen auf dem Schwarzmarkt wieder auf. Die Rette-sich-wer-kann-Korruption wird im Gesundheitswesen menschenverachtend. Wenn es in Venezuela eine humanitäre Krise gibt, dann hier.
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Damelys Yégüez, eine große Afrovenezolanerin mit grauem Lockenkopf, wohnt in einem modernen Appartment-Komplex. Hier können sich die meisten Bewohner private Krankenhäuser leisten. Es ist eine jener guten Wohngegenden von Caracas, in der die Opposition zu Kundgebungen aufruft. Ein paar hundert Leute versammeln sich dann auf einer Straßenkreuzung mit Trommeln und der Nationalflagge von Venezuela. Die Parolen gehen kaum hinaus über „Maduro raus!“ Der Name von Guaidó ist nicht zu hören. Er ist für die meisten Demonstranten weniger Hoffnungsträger denn die derzeit einzige Notlösung. Die Nationalgarde ist bei solchen Demonstrationen zwar präsent, steht aber meist nur gelangweilt am Rand. Es scheint so, als spiele die Regierung auf Zeit und warte darauf, dass die Protestwelle verebbt.
Damelys passt mit ihrer politischen Einstellung nicht in ihre Wohngegend: die 70-jährige pensionierte Soziologieprofessorin ist Kommunistin, und was für eine. Sie versucht jeden mit einem Redeschwall zu überzeugen, selbst ihre Nachbarn. „Mindestens sechzig Prozent hier sind rechts und stehen auf der Seite der Opposition“, sagt sie. Sie hat es zu spüren bekommen. An ihrem Wagen wurden in der Tiefgarage schon die Reifen durchstochen, die Rückspiegel abgebrochen. Und trotzdem wirbt sie als Mitglied des lokalen Clap-Komitees für den Karton mit Lebensmitteln. „Am Anfang wurde mir die Tür vor der Nase zugeschlagen“, erzählt sie. Aber sie gibt nicht auf. Sie will beweisen, dass dieser Staat auch Gutes tun kann, selbst für reiche Leute. Inzwischen würden sich mehr als die Hälfte ihrer Nachbarn mit der staatlich subventionierten Ware versorgen lassen. Lebensmittel sind ein starkes Argument in Venezuela.
Natürlich habe die Regierung auch Fehler gemacht, sagt Damelys. Schon Chávez habe die Landwirtschaft vernachlässigt und die Lebensmittelproduktion wenigen Monopolisten überlassen. „Die haben die Waren zurückgehalten, um die Revolution zu zerstören“, sagt sie. „Dann wurden sie an Schwarzhändler verkauft, die die Preise in die Höhe getrieben haben.“ Das sei auch möglich gewesen, weil es in Venezuela immer Privateigentum an Land und Produktionsmittel gegeben habe. „Wir waren auch unter Chávez meilenweit entfernt vom Sozialismus, aber wir haben uns immerhin auf den Weg dorthin aufgemacht.“ Nun würden die sozialen Gegensätze durch die Wirtschaftssanktionen der USA wieder zugespitzt.
Die Clap-Komitees und das von ihnen verteilte Paket seien die Antwort der Regierung auf diesen Wirtschaftskrieg. „Clap kennt die Basis. Wir wissen, wer Chavist ist und wer nicht.“ Und eben deshalb glaubt Damelys auch zu wissen, dass es den Oppositionsparteien schlecht gehe und ihre permanenten Aufrufe zu Demonstrationen ein letztes verzweifeltes Aufbäumen seien. „Sie versuchen, die Leute auf die Straße zu treiben, weil ihnen sonst nichts mehr einfällt.“ Guaidó sei nur eine Marionette der alten Oligarchie und der USA, die benutzt und dann weggeworfen werde. „Er wird enden wie ein benutztes Kondom.“
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Amunaray – seinen Nachnamen verrät er nicht – gehört zum anderen Ende der sozialen Skala. Der knapp 60-jährige schmale Mann in zerrissenen Jeans und gefälschtem Lacoste-Hemd mit schlecht kopiertem Krokodil auf der Brust ist in Petare aufgewachsen, einem der größten Armenviertel Lateinamerikas. Heute verbringt er seine Tage mitten im Zentrum von Caracas. Dort, wo sich die wenigen erhaltenen Kolonialgebäude zwischen Massen von Beton und Glas und vielspurigen Straßen verlieren und wo die Augen von Hugo Chávez das häufigste Motiv für großflächige Wandgemälde sind. Auch Amunaray versteht sich als die Augen der chavistischen Bewegung. Er ist Sprecher eines der sogenannten „Colectivos“: Gruppen regierungstreuer junger Leute aus den Armenvierteln, die oft mit Pistolen bewaffnet auf Motorrädern am Rand von Oppositionskundgebungen auftauchen und Demonstranten jagen. Man wirft ihnen Dutzende von Morden vor.
Amanuaray hat sein Hauptquartier auf dem von revolutionären Wandgemälden umsäumten Platz „23 de octubre“ und so nennt sich auch das Colectivo, für das er spricht. Das Datum bezieht sich auf den 23. Oktober 2016, jenen Tag, an dem der damalige rechte Parlamentspräsident Henry Ramos Allup die Bilder von Chávez und dem Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar im Plenarsaal abhängen ließ und die Regierung befürchtete, die von der Opposition dominierte Volksvertreterversammlung wolle ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Maduro anstrengen. Damals stürmten Colectivos den Plenarsaal und prügelten die Oppositionsabgeordneten hinaus. Das Colectivo von Amunaray erbeutete dabei die schon entfernten Bilder ihrer Helden. Sie hängen heute im Büro am Rand des Platzes 23 de octubre.
„Wir sind für den Frieden, aber man hat uns einen Krieg aufgezwungen“, sagt Amunaray mit dem karibischen Akzent der einfachen Leute. „Wir müssen auf alles vorbereitet sein und das Volk organisieren. Und das macht man heute mit Sozialarbeit.“ Das Colectivo hat einen Domino-Club für Rentner ins Leben gerufen, veranstaltet Aerobic-Stunden auf dem Platz und Stricknachmittage für Frauen. Im kleinen Versammlungsraum gibt es Vorträge über den Umgang mit Heilkräutern und darüber, wie man auf Balkonen Gemüse anbauen kann. „Wir lassen auch unsere Beziehungen spielen und besorgen kranken Menschen die Medikamente, die sie brauchen.“ Woher diese Medikamente kommen, lässt er offen.
Organisiert zu sein bedeute aber auch, zu den Waffen zu greifen, sollte es zu einer militärischen Invasion in Venezuela kommen, sagt Amunaray. „Es gibt hundertausende chavistische Milizionäre, sie haben Waffen und sie sind ausgebildet.“ Auch sein Colectivo gehört selbstverständlich zu diesen Milizen. Sollte die US-Armee einmarschieren, müsse sie sich auf ein neues Vietnam gefasst machen. „Wir sind vorbereitet.“
März 2019