Der steigende Meeresspiegel verschluckt langsam eine Inselgruppe vor der Küste Panamas. Fast 40.000 Menschen vom Volk der Guna werden aufs Festland umsiedeln müssen. Von Toni Keppeler.
Im November beginnt die schlimme Zeit. Dann kommt der Wind aus dem Norden, drückt das Wasser gegen die Insel, wird zum Sturm und fegt die auf Stelzen ins Meer hinaus gebauten Klohäuschen aus Palmstroh oder Zinkblech weg. Die Wellen brechen große Lücken in die mühsam errichteten Barrieren aus gebrochenen Korallen. Dann steht Gardi Muladup unter Wasser.
Niemand weiß, wann das Meer kommen wird, aber es wird kommen, das ist sicher. Es kommt immer um diese Zeit und das schon seit Jahren. Im November, im Dezember, manchmal erst im Januar. Danach flaut der Wind aus dem Norden ab.
Besonders schlimm war es 2008. „Da standen wir zehn Tage lang bis zu den Knien im Wasser“, sagt Carlos Pérez. Niemand kam weg von der Insel. Eine Überfahrt zum Festland im schmalen Einbaum wäre wegen Wind und Wellen viel zu riskant gewesen. „Wir konnten kein frisches Wasser holen und keine Nahrung“, erzählt Pérez. Er sitzt im großen Versammlungshaus der Insel und draußen regnet es in Strömen. Das Dach aus einem dicken Geflecht aus Palmstroh hält dicht. Die schmalen Wege zwischen den eng aneinander geschmiegten Bambus-Hütten aber stehen schnell knöcheltief unter Wasser. Kinder tollen durch den Schlamm uns spritzen sich nass. Es ist nur Regen, der schnell versickert, wenn die Sonne wieder kommt. Wenn aber das Meer kommt, „dann kann in den meisten Hütten Tage lang nicht gekocht werden“. Nur wenige auf der Insel haben einen Gasherd, die meisten Familien nur die traditionelle Feuerstelle in einer Kuhle im Boden, und die füllt sich schnell mit Wasser. Und das Meer wird kommen, auch in diesem Jahr.
Carlos Pérez ist Sagla auf Gardi Muladup, der politische und spirituelle Führer der rund 350 Einwohner der Gemeinde. Er ist klein und schmal und vielleicht siebzig Jahre alt, trägt immer Hut und Krawatte als Zeichen seiner Würde. Auch im Halbdunkel des Versammlungshauses nimmt er die Sonnenbrille nie ab und erinnert so ein bisschen an den alternden Ray Charles. Gardi Muladup liegt wenige Kilometer vor der karibischen Küste Panamas im Golf von Gunayala. Das Eiland gehört zum gleichnamigen Archipel, einer Gruppe von 365 Inselchen, die sich vom Golf bis hin zur Grenze mit Kolumbien erstreckt. Keines dieser Eilande ragt mehr als zwei Meter aus dem Ozean, viele nicht einmal einen. Aus der Ferne sehen die meisten so aus, als seien sie eine Scheibe, die auf dem Wasser schwimmt. 49 dieser Inseln sind bewohnt. Fast 40.000 Menschen des Volkes der Guna wohnen dort. In den nächsten Jahren werden sie alle aufs Festland übersiedeln müssen. Denn der Meeresspiegel steigt.
Es gibt nur eine wissenschaftliche Studie über die langsam versinkenden Inseln von Gunayala, die Meeresbiologen Héctor Guzmán, Carlos Guevara und Arcadio Castillo haben sie 2003 veröffentlicht. Anhand von Messungen an Korallenriffen haben sie festgestellt, dass sich der Meeresspiegel vor der karibischen Küste Panamas zwischen 1907 und 1975 um durchschnittlich zwei Millimeter im Jahr erhöht hat. Seither hat der Anstieg dramatisch zugenommen: auf durchschnittlich 2,4 Zentimeter im Jahr. Dieses Ergebnis deckt sich zeitlich mit anderen Phänomenen des Klimawandels. Auch das Abschmelzen der Arktis und der tropischen Gletscher in den Anden hat sich Mitte der siebziger Jahre explosionsartig beschleunigt. Die unbewohnten Inseln des Gunayala-Archipels haben seither fast zehn Prozent ihrer Fläche verloren. Die bewohnten Inseln dagegen haben Land gewonnen, fast fünfzehn Prozent. Wie das?
Guna-Familien haben viele Kinder, fünf oder sieben sind völlig normal. Seit es eng wurde auf den Inseln, trotzen sie dem Meer neuen Boden ab, Quadratmeter für Quadratmeter. Im Einbaum paddeln sie hinaus zu den vorgelagerten Korallenriffen, brechen große Brocken heraus und bauen damit kleine Barrieren am Strand. Das so eingefriedete Stück wird mit feinen Korallenästen aufgeschüttet und dient danach als Müllplatz für den überwiegend organischen Abfall. Im tropischen feucht-heißen Klima bildet sich schnell eine Krume, die dann von Gras überwachsen wird. Umweltschützer in Panama-Stadt, die besorgt sind um die Korallenriffe, wollen das am liebsten verbieten. Die Guna aber schaffen sich so ihren Lebensraum und haben im Lauf der Jahrzehnte die Fläche vieler bewohnter Inseln verdoppelt. Heute sind sie froh, wenn sie das gewonnene Land halten können.
„Als ich noch jung war, vor vierzig oder fünfzig Jahren, konnten wir bei Ebbe zu Fuß hinaus zum Korallenriff“, erzählt Pérez. „Das geht schon lange nicht mehr, das Wasser ist viel zu tief.“ Und wenn dann zum Ende des Jahres die Stürme und mit ihnen die hohen Wellen kommen, dann wird die mühsame Arbeit von Monaten oft einfach wieder weggespült. „Seit fünf Jahren debattieren wir im Dorf über eine Umsiedlung aufs Festland“, sagt der Sagla. „Wir sollten so langsam gehen.“
Einen Plan für ein neues Dorf gibt es schon, ausgearbeitet von einem Bauingenieur. Aber man bräuchte Land, und man bräuchte Geld. Bei der Regierung Panama-Stadt, sagt Pérez, würden sie nur hingehalten. Einmal hat eine Abordnung des Dorfes auch bei der Botschaft von Japan angeklopft. „Sie sagten uns, Japan finanziere nur große Vorhaben für die Infrastruktur, unsere Umsiedlung sei ihnen zu klein. Für uns aber ist sie zu groß.“
Gardi Muladup ist nur fünfzehn Bootsminuten vor der näher am Festland liegenden viel größeren Insel Gardi Sugdub entfernt und schützt diese vor Strömungen und dem Druck des Wassers bei Wind. Über tausend Guna wohnen dort. Sie leiden weniger unter Überschwemmungen als ihre Nachbarn. Allenfalls eine Woche lang stehe man knöcheltief im Wasser, wenn der Sturm das Meer auf die Insel drückt. Und doch hat die Versammlung der Dorfbewohner schon vor fünf Jahren beschlossen: „Wir gehen zurück aufs Festland.“ Pablo Presiado, der Sagla von Gardi Sugdub, sagt das entschlossen und nennt auch ein Datum: Am 1. Januar 2015 wird der Umzug beginnen.
Zurück? Presiado, ein fröhlicher Mensch, groß und stattlich, mit scharfer Hakennase und informell gekleidet, lacht verschmitzt. Hut und Krawatte, die Insignien eines Sagla, trägt der 68-Jährige nur bei den traditionellen Dorfversammlungen. Mit seiner Barriton-Stimme holt er holt weit aus: Ja, man gehe „zurück aufs Festland“, weil sein Volk vor gut 150 Jahren von dort aus die Inseln bevölkert hat. Die Guna stammen ursprünglich aus dem heutigen Kolumbien und gut tausend von ihnen leben noch immer dort im Bergland der Provinz Antioquia. Die meisten aber sind vor rund 500 Jahren ins heutige Panama ausgewandert, vermutlich wegen Kriegen mit anderen Völkern und mit den das Land erobernden Spaniern. „Wir waren die Verlierer und sind gewichen“, sagt Presiado. Sie kamen aus dem Bergland und ließen sich zunächst auch auf dem lang gezogenen Bergrücken der karibischen Seite Panamas nieder. Von dort zogen sie langsam hinunter in die schmale Küstenebene, weil dort der Boden fruchtbarer ist, viel besser geeignet für den Anbau von Yucca, Reis und Kochbananen.
In der Küstenebene aber gibt es auch Moskitos, in den Abendstunden der Monate Februar bis April in großen dunklen Schwärmen. Mit ihren Stichen übertragen sie Gelbfieber, Malaria und Dengue. Die Guna flohen vor diesen Seuchen auf die vorgelagerten Inseln, wo es wegen der dauernden Brise keine Stechmücken gibt. Weil dort aber keine Quellen sind, siedelten sie nur in Küstennähe und immer gegenüber der Mündung eines kleinen Flusses. Dorthin paddelten die Frauen mehrmals am Tag, um frisches Wasser zu holen. Seit ein paar Jahren sind die größeren Inselns ans Leitungsnetz angeschlossen und fast überall gibt es auch Licht: Vor so gut wie jeder Hütte steht eine kleine Photovoltaik-Zelle auf einem Masten, gerade groß genug, um zwei oder drei Glühbirnen mit Strom zu versorgen – ein Wahlgeschenk des am 1. Juli dieses Jahres aus dem Amt geschiedenen Präsidenten Ricardo Martinelli.
Erst auf den Inseln wurden die Guna zu Fischern. Ihre Felder blieben aus Platzmangel in der Küstenebene des Festlands. In den Bergen dahinter jagen sie noch immer den Tapir. Auf den Inseln weiter draußen im Meer werden legten sie kleine Kokosplantagen an. Die brauchen keine Pflege, man muss nur zur Ernte vorbeikommen. Ein paar dieser Inseln werden heute touristisch genutzt und sie sehen tatsächlich so aus wie das Klischee eines karibischen Paradieses: Ein Sandhaufen mitten im Meer, mit Palmen bestanden und darunter im Schatten kleine Bungalows mit einem Dach aus Palmstroh. Vom beengten Leben auf den küstennahen Inseln bekommen die Urlauber dort nichts mit. Sie werden vom Festland direkt ins Hotel verschifft. Die Guna schützen ihre ganz eigene Kultur so gut es geht vor Einflüssen von außen. Besonders stolz sind sie auf ihre Revolution von 1925.
Damals versuchte die Regierung in Panama-Stadt, die Guna in die von den spanischen Eroberern geprägte Kultur des Landes zu zwingen. Sie errichtete Polizeistationen auf der damals San Blas genannten Inselgruppe, schickte Richter und Verwaltungsbeamte. Den Guna wurde verboten, ihre eigene Sprache zu sprechen, die Frauen mussten gegen ihren Willen eng umschlungen mit den Besatzern tanzen. Wer sich wehrte, wurde verhaftet und gefoltert. Die Guna griffen zu den Waffen und vertrieben die Abgesandten der Regierung; ein paar wurden auch erschossen.
Heute heißt die Gegend Comarca Gunayala – neben den Inseln gehört auch der Küstenstreifen bis hinein ins Bergland dazu – und genießt eine in Lateinamerika einzigartige Autonomie. Auf den Inseln gibt es keine Bürgermeister, sondern weiterhin nur die geistlichen und religiösen Führer der Guna, die gewählt, aber jederzeit auch wieder abgesetzt werden können. Es gilt die traditionelle Rechtssprechung des Volkes, die als Strafe keine Gefängnis kennt, sondern nur die öffentliche Belehrung, die den Delinquenten so tief beschämt, dass er fürderhin nicht mehr straffällig wird. Ohnehin ist die soziale Kontrolle auf den Inselchen streng. Jeder kennt jeden, nichts bleibt verborgen. Sogar die erste Menstruation von Mädchen wird öffentlich ausgerufen.
Nur eine einzige schmale Straße führt nach Gunayala und obwohl das Gebiet Teil des Staates Panama ist, gibt es eine richtige Grenze mit Schlagbaum, die nur von sieben Uhr morgens bis vier Uhr am Nachmittag geöffnet ist. Zuerst kontrollieren panamesische Grenzsoldaten die Papiere, dann die Autonomiebehörde der Guna. Inselbewohner, die ihr Gebiet verlassen wollen, brauchen eine schriftliche Genehmigung des Sagla ihrer Gemeinde.
Von der Grenze führt das Sträßchen in engen Serpentinen hinunter in die Küstenebene zur Mole von Gardi Sugdub: eine Kneipe, ein Verwaltungsgebäude, ein Steg hinaus ins Meer. Von hier aus erreicht man die Inseln in Booten mit Außenbordmotoren. In Gardi Sugdub ist man in fünfzehn Minuten. Bis zu den Inseln nahe der Grenze mit Kolumbien sind es acht Stunden Fahrt.
Gardi Sugdub ist ein richtiges Städtchen mitten im Wasser, mit einer kleinen Einkaufsstraße und zwei Molen und es gibt sogar eine Antenne für den Mobilfunkempfang. Viele Häuser haben Dächer aus Wellblech. Es gibt nicht genügend Palmen in der Gegend, um alle mit dem traditionellen Stroh zu decken. Seit die Bevölkerung auf über tausend Einwohner gewachsen ist, hat Geld den traditionellen Tauschhandel weitgehend abgelöst. Wenn aber ein paar Fischer weit draußen im Meer einen großen Thunfisch harpuniert haben und auf die Insel bringen, dann wird der wie früher gleich an der Mole unter vielen Familien aufgeteilt. Auf den kleineren Inseln sind noch heute kaum Scheine und Münzen im Umlauf.
Das Zentrum jeder Gemeinde ist ein großes Versammlungshaus in der Mitte. Dort trifft sich die Bevölkerung jeden Abend, um die Probleme der Insel zu debattieren. Jeder und jede hat Rederecht. Sollte die Debatte nicht im Konsens enden, wird das Thema entweder vertagt, oder es wird abgestimmt. Zwei Mal in der Woche findet eine religiöse Versammlung statt. In der Mitte sitzt der Sagla in einer Hängematte und singt Lieder aus der mündlichen Tradition der Guna, in einer liturgischen Sprache, die nur die initiierten geistlichen Führer verstehen, vorgetragen mit näselnder Stimme in einer einschläfernd eintönigen Melodie. Um den Sagla herum sitzen die Frauen auf groben Holzbänken, viele von ihnen sticken. Ganz außen im Kreis sind die Männer. Ein paar Helfer des Sagla gehen durch die Reihen und holen die dahindämmernde Gemeinde mit lauten Rufen zurück zu den Liedern. „Seid aufmerksam!“ – „Schlaft nicht ein!“ Nach einer Stunde Gesang übersetzt der Argar – der Sprecher des Sagla – das vorgetragene Lied in freier Rede in die heutige Zeit. Man könnte das eine Predigt über einen überlieferten sakralen Text nennen.
Es gibt Lieder, die wie eine moralische Unterweisung sind. Andere handeln vom Leben großer Männer und Frauen. Und wieder andere erzählen die Geschichte es Volkes der Guna. „Die Inseln kommen in keinem unserer traditionellen Lieder vor“, sagt der Sagla Pablo Presiado. Die Gesänge gehen zurück in die Zeit vor der Ankunft der Guna auf den Inseln. Eine Rückkehr aufs Festland, sagt Presiado, würde deshalb die Kultur seines Volkes nicht gefährden.
Schon vor vier Jahren hat die Dorfversammlung die Umsiedlung beschlossen. „Nur drei oder vier Familien waren dagegen“, sagt Presiado. „Es gibt es immer ein paar, die dagegen sind, und niemand wird gezwungen.“ Allen anderen war klar: Es wird zu eng auf der Insel. An weitere Aufschüttungen ist nicht mehr zu denken. Es kostet schon genügend Kraft und Anstrengung, das dem Meer abgetrotzte Land über die Stürme und Überschwemmungen um den Jahreswechsel herum zu halten. Und die Bevölkerung wächst weiter. In vielen Hütten hängen schon jetzt die Hängematten in zwei Stockwerken. Alles ist so eng bebaut, sagt Presiado besorgt, „dass die Kinder keinen Platz mehr zum Spielen haben“.
Die Voraussetzungen für den Umzug sind im Grunde ideal. Die Gemeinde besitzt auf dem Festland 17 Hektar Land – gut drei Mal so viel, wie die Insel hat. Das liegt rund einen Kiloeter hinter der Küste und hoch genug, um vor Überschwemmungen sicher zu sein. Ganz in der Nähe führt die einzigen Zugangstraße zur Comarca vorbei. Die Regierung hat versprochen, dort ein Krankenhaus und ein Schulzentrum mit angeschlossenem Internat für die ganze Inselregion zu bauen. Es gab auch das Versprechen, den Bau der ersten 65 Häuser des neuen Dorfes von Gardi Sugdub mit 2,4 Millionen US-Dollar zu finanzieren. Sogar die Skizze eines Bebauungsplans hat der Sagla im Bauministerium in Panama-Stadt gesehen. Schon vor vier Jahren haben die Bewohner von Gardi Sugdub den Regenwald auf dem vorgesehenen Gelände gerodet.
Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Die Natur hat sich alles zurückgeholt. „Ich war oft im Bauministerium in der Hauptstadt“, erzählt Presiado. „Aber dann wurde der Minister ausgetauscht und sein Nachfolger sagte uns, das bereit gestellte Geld habe man für einen Notfall in einer anderen Gegend Panamas ausgegeben.“ Dann kam am 1. Juli der Regierungswechsel und heute weiß niemand, wer in der neuen Regierung zuständig ist für die Umsiedlung von Gardi Sugdub. „Bei meinem letzten Besuch haben sie nicht einmal mehr den Plan für das neue Dorf gefunden.“
Das Krankenhaus sollte eigentlich seit Juni fertig sein. Es steht nur die Hülle aus Beton und gammelt als Investitionsruine vor sich hin. Die Mauern werden langsam schwarz vom Regen und vom Pilzbefall. Vom Schulzentrum – geplante Fertigstellung: Oktober 2014 – gibt es bislang nur Gerüste. Immerhin aber wird dort gearbeitet. „Wenn wir bis zum 31. Dezember keine Antwort aus Panama-Stadt bekommen, fangen wir am 1. Januar mit dem Roden des Geländes an“, sagt Presiado. Das zweite Mal soll das letzte Mal sein. Die Gruppen für den Arbeitseinsatz sind schon zusammengestellt.
Das für die Umsiedlung zuständige Dorf-Komitee hat bei einer Tiefbaufirma nachgefragt, was es denn kosten würde, das Gelände mit schwerem Gerät zu nivellieren. 18.000 Dollar, war die Antwort. In der Gemeindekasse aber lagen nur 4.000 Dollar. Die Dorfgemeinschaft hat dann beschlossen, dass Prepaid-Karten für die Mobiltelefonie auf Gardi Sugdub nicht mehr privat verkauft werden dürfen, sondern der Erlös für die Erdarbeiten angespart wird. „Wir werden gehen“, sagt Presiado. Egal, ob Geld aus der Hauptstadt kommt oder nicht. Und nicht nur die ersten 65 Familien, wie es das Bauministerium einmal vorgesehen hatte, sondern alle auf einmal. „Zur Not werden wir zunächst in Hütten aus Holz und Karton wohnen.“
Und was ist mit den Seuchen? Es gibt noch immer Moskitos in der Küstenebene und mit ihnen Malaria, Gelbfieber und Dengue. Die Sorge hat auch Victoria Navarro umgetrieben, die Vorsitzende der Frauenvereinigung auf Gardi Sugdub. Die Mutter von sieben Kindern und Großmutter von zehn Enkeln ist eine Frau der Tat und eine Respektsperson im Dorf. In politischen und religiösen Fragen haben bei den Guna zwar die Männer das Sagen. Vererbt aber wird von der Mutter auf die Töchter. Heiraten die Söhne, müssen sie das Haus der Familie verlassen. Navarro trägt stets die traditionelle Tracht der Guna-Frauen – einen langen Wickelrock, eine bunt bestickte Bluse und Stulpen aus Perlengewebe an Armen und Beinen. Wenn sie in der Gemeindeversammlung spricht, verstummen die Männer. Sie hat die beiden einzigen Guna-Gemeinden auf dem Festland besucht, die nie auf die Inseln übergesiedelt sind und schon seit Jahrhunderten im Regenwald wohnen. „Ich habe dort mit den Frauen geredet und sie haben mich überzeugt: Man kann die Krankheiten auf natürliche Art kontrollieren.“
Die Guna glauben, dass jede Pflanze und jedes Tier einen Lebenszyklus hat, genauso wie der Mensch. Wenn man diese Zyklen studiert und verstanden hat, lässt sich ein Gleichgewicht herstellen, in dem alle miteinander auskommen können; auch der Mensch und die Moskitos. Navarro weiß jetzt: „Die Krankheiten sind nur von Februar bis April eine Gefahr und das hängt mit dem Lebenszyklus der Moskitos zusammen.“ In diesen Monaten müsse man das Gelände im Dorf besonders sauber halten, es dürfe keine Pfützen geben und auch sonst kein stehendes offenes Wasser. „Man wird die Krankheiten nicht ganz vermeiden können; aber es ist möglich, mit ihnen zu leben.“
Dieses Gleichgewicht will Navarro auch mit dem Regenwald hinter der Küste suchen. „Wir werden nicht mehr roden, als unbedingt nötig ist“, sagt sie. 450 Quadratmeter für jede Familie: für ein Haus und einen kleinen Gemüsegarten. Mehr wollen die Guna nicht und mehr, glauben sie, ist ihnen auch nicht erlaubt. „Wir dürfen dem Wald nicht mehr wegnehmen, als wir unbedingt brauchen“, sagt sie.
Im weltweiten Maßstab sei das Gleichgewicht der Natur längst durcheinandergebracht und eben deshalb steige der Meeresspiegel. „Es sind die großen und reichen Länder, die alles verschleudern, das Erdöl, die Kohle“, sagt sie. „Das kann nicht mehr repariert werden.“ Den Guna bleibt nur die Flucht aufs Festland „Wie sind nicht schuld daran. Wir leiden nur darunter.“
Victoria Navarro weiß, dass ihr Volk viel länger auf dem Festland lebte als auf den Inseln. Dass sie Jäger waren und Bauern, keine Fischer auf dem Meer. Sie aber werde sich nicht wieder an das Leben gewöhnen, das in den alten Liedern besungen wird. Mit ihren 53 Jahren, glaubt sie, sei sie zu alt. Vielleicht aber wird es für ihre Enkel eines Tages normal sein, das Meer nur noch aus der Ferne zu sehen. „Mir wird es fehlen, das Geräusch der Wellen, wenn es still wird am Abend und man nichts anderes mehr hört.“
November 2014