Warum Mexiko-Stadt austrocknet und der Axolotl stirbt. Von Toni Keppeler und Laura Nadolski.
Die ersten Axolotl, die nach Europa kamen, waren tot. Der Forschungsreisende Alexander von Humboldt hatte zwei dieser kuriosen Tierchen in Mexiko präparieren lassen und sie 1804 Georges Cuvier in Paris überreicht. Cuvier, ein angesehener Zoologie-Professor am Muséum national d’histoire naturelle, hat die Kadaver eingehend untersucht und kam zu dem Schluss, dass es sich um eine Larve handeln müsse, die irgendwann zu einem ihm unbekannten Salamander werde. André Marie Constant Duméril, der Leiter der Ichthyologie (Fischkunde) und Herpetologie (die Kunde der Lurche und Reptilien) am selben Museum, war dagegen der Überzeugung, der Axolotl sei eine neu entdeckte Art aus einer Gattung, zu der auch der europäische Grottenolm gehört.
Der Axolotl, der schon damals nur im See von Xochimilco im Hochtal von Mexiko-Stadt vorkam, hat durchaus Ähnlichkeit mit einem Salamander. Die im Erwachsenenalter durchschnittlich rund 25 Zentimeter lange Amphibie – einzelne Exemplare können bis zu 40 Zentimeter lang werden – hat einen runden Kopf mit breitem Maul und weit auseinanderstehenden Äuglein, einen langgestreckten Rumpf mit vier Beinchen, die in Fingern enden; dazu einen langen seitlich plattgedrückten Schwanz mit einem Flossensaum. Besonders verwunderlich sind sechs fächerartige Gebilde im Nacken des Tierchens, die wie Spielzeuggeweihe aussehen. Es handelt sich dabei um Kiemen. Der Axolotl kann auf drei Arten Sauerstoff aufnehmen: Durch den Mund in die Lunge, über die Kiemen und über die Haut. Die Tiere sind gewöhnlich schwarz oder graubraun gefleckt.
Cuvier hatte mit seinen Erkenntnissen insofern recht, als ein Axolotl tatsächlich die Larve eines Salamanders ist. Nur verwandelt er sich nie. Er bleibt sein Leben lang eine Larve und erreicht doch die Geschlechtsreife und kann sich fortpflanzen. Man nennt diese Besonderheit Neotenie, und die kommt auch beim Grottenolm vor. So traf auch Duméril einen richtigen Punkt. Die beiden Pariser Wissenschaftler aber wussten nichts von einer weiteren Besonderheit des Axolotl: Er hat eine fast unheimliche Regenerationsfähigkeit. Reißt man ihm ein Beinchen ab, so wächst es vollwertig nach. Selbst Teile des Gehirns, der Wirbelsäule oder des Herzens kann man ihm herausschneiden. Der Axolotl ersetzt alles, was man ihm nimmt. Eben deshalb wurde er zum bevorzugten Labortier von Genforschern. In seiner Heimat in Xochimilco aber ist er akut vom Aussterben bedroht. Es gibt dort nur noch um die fünfhundert Exemplare, und auch deren Lebensraum verschwindet. Mexiko-Stadt geht das Wasser aus.
Von der riesigen Seenplatte, die einst das zentrale Hochtal von Mexiko bedeckte und in der hunderttausende Axolotl lebten, ist nur noch ein kümmerlicher Rest übrig, das Feuchtgebiet von Xochimilco. Zu von Humboldts Zeiten – er forschte dort in den Jahren 1803 und 1804 – war die Wasserfläche in dieser Region schon erheblich geschrumpft. Der Universalgelehrte sah schon damals voraus, wie alles enden werde, und lastete die Schuld daran der Kolonialmacht Spanien an. «Wer die europäische Halbinsel durchreist hat», schrieb er in seinem Mexico-Werk, «weiß, wie wenig Gefallen die Spanier an Pflanzungen finden, welche den Umgebungen der Städte und Dörfer Schatten geben, und es scheint, als ob die ersten Eroberer das schöne Tal von Tenochtitlan dem dürren, aller Vegetation beraubten Boden von Kastilien gleich zu machen gestrebt hätten.» Tenochtitlan hieß die Hauptstadt der Azteken. Als sie der spanische Raubritter Hernán Cortéz 1521 eroberte, lag sie auf einer Insel im damals riesigen und heute verschwundenen Texcoco-See.
Seit dieser Zeit, schrieb von Humboldt, «hat man ohne alle Überlegung die Bäume sowohl auf dem Plateau, wo die Hauptstadt liegt, als auch auf den dasselbe umgebenden Gebirgen abgehauen.» So wurde die nackte Erde der brennenden Sonne ausgesetzt und ist vertrocknet. Der Naturforscher ahnte schon damals, was heute im Hochtal von Zentralmexiko Wirklichkeit ist: Die Gegend ist zur Steppe geworden, in weiten Teilen gar zur Wüste. Wenn es irgendwo grün ist, dann wird künstlich bewässert – mit Wasser, das den Menschen fehlt. In Iztapalapa zum Beispiel, dem am dichtest besiedelten Bezirk von Mexiko-Stadt. Seine zwei Millionen Einwohner werden seit 2005 nur noch mit Tanklastern versorgt. Heute ist Wasser im gesamten Großraum der Megastadt rationiert.
Die Spanier haben das Hochtal so gründlich trocken gelegt, dass die Reste des Feuchtgebiets von Xochimilco keinen natürlichen Zufluss mehr haben. Sie werden mit dem Wasser aus einer Kläranlage gespeist, und das hat eine sehr zweifelhafte Qualität. Die darin enthaltenen Giftstoffe setzen den letzten Axolotl arg zu. Die Tiere atmen auch über die Haut. In diesem Wasser zu überleben sei für sie gerade so, «als hätten sie permanent Covid», sagt Luis Zambrano. Der Biologie-Professor an der Autonomen Nationaluniversität von Mexiko-Stadt setzt sich seit bald zwei Jahrzehnten für die Restaurierung des Lebensraums des Axolotl ein.
Das Tier hat, seit über es geschrieben wird, vor allem Männer fasziniert. Der Naturforscher Francisco Hernández de Toledo (1514 oder 1517 bis 1587) hat sich in der ersten bekannten Beschreibung des Axolotl vor allem auf sein Geschlechtsteil kapriziert. Das nämlich, schrieb er in seiner Historia de los animales de la Nueva España, sei «eine Vulva, die derjenigen der Frau sehr ähnlich ist». Biologisch gesehen ist das ein Irrtum. Der Axolotl hat eine sogenannte Kloake, über die alle Ausscheidungen und Körpersekrete nach draußen gelangen, und die sieht bei Männchen und Weibchen gleich aus. Trotzdem wurde der Fehler fast dreihundert Jahre wiederholt. Heute spukt der Lurch als männliches Geschlechtsteil durch die mexikanischen Literatur. So sieht der Anthropologe Roger Bartra in dem abgerundeten Kopf und dem langen flexiblen Körper des Axolotl ein Spermium. Er sagt, das Tier habe eine phallische Form und sei in etwa so groß wie ein erigierter Penis. Bartra sieht in ihm die Verkörperung des nationalen Charakters. Genauso wie die Mexikaner stecke er in einer scheinbar ewigen Jugend fest; potent, aber unfähig, sich zu entwickeln und den Sprung in die Modernität zu tun.
Als Hernán Cortéz nach Tenochtitlan kam, war er beeindruckt vom Hochtal mit seiner Seenplatte und von der Stadt. Der Grund des Tals, das an seinen weitesten Stellen rund sechzig Kilometer lang und hundert Kilometer breit ist, liegt 2250 Meter über dem Meeresspiegel. Im Westen wird es von der bis zu 3900 Meter hohen Sierra de las Cruces begrenzt, im Süden vom Vulkangürtel der Sierra Neovolcánica und im Osten von der Sierra Nevada. Fast tausend Quadratkilometer des etwa doppelt so großen Talgrunds waren von einer Seenplatte bedeckt. Der Texcoco in der Mitte hatte die bei weitem größte Wasserfläche und war gleichzeitig der niedrigste Punkt. In Richtung Norden schlossen sich der Xaltocan und der Zumpango an, im Süden der Xochimilco und der Chalco. In der Regenzeit, wenn die in die Seen mündenden Flüsse Hochwasser trugen, flossen die Seen ineinander und ließen den Spiegel des Texcoco steigen. Einen natürlichen Abfluss gab es nicht, das Wasser verdunstete. Die umliegenden Hänge waren mit Eichen, Kiefern und anderen Bäumen bewaldet.
Tenochtitlan lag auf einer Insel aus Basalt, die von den Azteken mit Erde vom Seegrund erheblich erweitert worden war. Ihre Hauptstadt war eine Metropole, die nach verschiedenen Schätzungen zwischen 150.000 und mehr als 300.000 Einwohner hatte. Fast alle Verkehrswege waren Kanäle, als hauptsächliches Verkehrsmittel diente das Kanu. Nur die vier Hauptstraßen waren auf Dämmen gebaut, die zum Schutz vor Überschwemmungen oder als Verbindungswege zum Festland in den See hinaus verlängert worden waren. Gemüse und Obst und viele Blumen wurden auf Lastenkanus vom Xochimilco-See über ein Kanalsystem nach Tenochtitlan gebracht. In Xochimilco hatten die Azteken eine Landwirtschaft vorgefunden, die einzigartig ist. Es handelte sich um Äcker auf künstlich angelegten Inseln, die von den Bauern Chinampas genannt wurden.
*
Chinampas wurden vermutlich im 9. Jahrhundert vom Volk der Chichimeken erfunden. Sie flochten aus Wasserpflanzen so etwas wie eine riesige Matratze, zehn bis zwanzig Meter breit und hundert bis zweihundert Meter lang. Auf diese luden sie eine Schicht von Schlamm vom Seegrund, um die acht Zentimeter stark. Die Sedimente des Sees sind reich an Nährstoffen. Solche Chinampas konnten frei über den See gleiten. Meist aber wurden sie mit Pfosten an den Rändern stabilisiert und im Seegrund verankert. Zwischen diesen fest verankerten Chinampas stand weiterhin das Seewasser. Es drang von allen Seiten in die Erde ein und hielt sie feucht. So entstand zwischen den Feldern ein System von Kanälen, die meist nur einen oder zwei Meter breit und rund eineinhalb Meter tief waren. Auf Chinampas wurden und werden bis heute eine Vielzahl von Pflanzen angebaut: verschiedene Salate, Spinat, Karotten, Rote Beete, Brokkoli, Radieschen, Kürbisse und an den Rändern oft Blumen. Xochimilco ist ein Wort aus der Nahuatl-Sprache und bedeutet «Ort der Blumenfelder».
Nach jeder Ernte warfen die Bauern Grüngut auf die Felder und darüber eine weitere Schicht aus Sedimenten. So wurden die Chinampas immer voluminöser, die Pfosten, mit denen sie verankert waren, wurden durch Bäume ersetzt. Oft ragten die Felder fünfzig bis siebzig Zentimeter aus dem Wasser. Viele reichen heute bis hinab zum Seegrund. Die Azteken haben dieses System der Landwirtschaft erheblich ausgebaut. Im See von Xochimilco entstand eine riesige Fläche von Chinampas, die Kanäle dazwischen maßen zusammengenommen weit über tausend Kilometer.
Chinampas waren und sind bis heute eine hoch effektive und äußerst biodiverse Landwirtschaftsmethode. Sie brauchen keinerlei Agrochemie. Im Feuchtgebiet von Xochimilco gibt es 180 verschiedene Pflanzen und rund 200 Tierarten. Es gibt eine große Diversität von Bestäubern, also Bienen, Schmetterlinge und andere Insekten. Während des Winters in Nordamerika lassen sich 140 Zugvogelarten dort nieder. In der Hitze des Sommers ist Xochimilco wegen der Verdunstung von Wasser so etwas wie eine Kühlanlage für Mexiko-Stadt. Bei Starkregen wirkt diese Fläche wie ein Schwamm. Das Feuchtgebiet nimmt abfließendes Wasser auf und schützt die umliegenden Gegenden vor Überschwemmungen. Zudem können die Felder große Mengen von Kohlendioxid (CO2) und Methan (CH4) aufnehmen. Die Kanäle waren ein idealer Lebensraum für den Axolotl.
Heute sind von diesen Wasserstraßen nur noch gut 150 Kilometer übrig. Das Wasser ist brackig und verschmutzt und es gibt nur noch ein paar wenige Abschnitte, in denen ein paar hundert Axolotl überlebt haben. Seit den 1970er-Jahren ist zudem die Biodiversität im Wasser in Gefahr. Damals setzte die Regierung afrikanische Buntbarsche und chinesische Karpfen in den Kanälen aus. Fischerei sollte den Bauern eine zusätzliche Einkommensquelle erschließen. Doch die Raubfische haben dort keine Feinde und vermehrten sich rasend schnell. Die Kanäle sind heute so überbevölkert von Karpfen und Barschen, dass die Tiere sehr klein bleiben – viel zu klein, um verkauft werden zu können. Besonders gerne fressen diese Raubfische den Laich und die Jungtiere des Axolotl. Neben der schlechten Wasserqualität und der zunehmenden Versiegelung sind sie wesentlich mit dafür verantwortlich, dass der seltene Schwanzlurch vom Aussterben bedroht ist.
*
Als die Spanier 1521 Tenochtitlan eroberten, schütteten sie die Kanäle mit Gesteinsbrocken und Bauholz der niedergerissenen Häuser zu. Der Sinn des Systems aus Dämmen und Deichen, das die Azteken errichtet hatten, blieb den Eroberern verschlossen. Sie ließen es einfach verfallen. Und sie wunderten sich, als ihre neue Hauptstadt 1553 überschwemmt wurde. Die Fluten wurden in den Jahren danach immer schlimmer. Zum Bau ihrer neuen Hauptstadt hatten die Kolonisatoren die den See umgebenden Berghänge abgeholzt. Sie konnten das Wasser, das in der Regenzeit vom Himmel fiel, nicht mehr aufnehmen. Es schoss die Hänge hinab in den See und nahm dabei viel nackte Erde mit. So waren es drei Ursachen, die den Pegel des Texcoco steigen ließen: Die neuen Sedimente, die sich auf seinem Grund ablagerten, die von den Berghängen herabfließenden Wassermassen und der Überlauf der etwas höher gelegenen nördlichen Seen Zumpango und Xaltocan.
Nach der Überschwemmung von 1607 beauftragte der spanische Vizekönig Marqués Luis de Salinas den Ingenieur Enrico Martínez, Abhilfe zu schaffen. Der legte zwei Entwürfe vor. Die große Lösung sah vor, den Zumpango, den Xaltocan und den Texcoco über ein Kanalsystem zu entwässern. Die kleine Lösung sah nur die Entwässerung des Zumpango vor. In beiden Fällen war ein Durchstich durch die das Tal begrenzende Bergkette im Nordwesten vorgesehen, als 6,6 Kilometer langer Tunnel, kombiniert mit einem 8,6 Kilometer langen offenen Entwässerungskanal. Der sollte das Wasser zum hundert Höhenmeter tiefer liegenden Río Tula auf der anderen Seite der Bergkette führen. Man entschied sich aus Kostengründen für die kleine Lösung.
Nach nur elf Monaten Bauzeit waren Tunnel und Entwässerungskanal fertig und wurden im Dezember 1608 in Betrieb genommen. Doch der Tunnel, 3,5 Meter breit und 4,2 Meter hoch, wurde immer wieder von Erdanhäufungen verstopft. Martínez war dort bis zum 20. Juni 1629 mit ständigen Reparaturarbeiten beschäftigt. Dann fiel starker Regen vom Himmel, der den Zumpango speisende Río Cuautitlán schwoll gewaltig an und Martínez fürchtete, die Wassermassen würden seinen Tunnel zerstören. Er ließ den Eingang blockieren – und Mexiko-Stadt stand unter Wasser. Fünf Jahre lang. Rund 50.000 Menschen starben.
Als das Wasser endlich abgeflossen war, wollte man den Abflusskanal erweitern. Statt eines Tunnels sollte nun die gesamte Bergkette durchschnitten werden. Doch die Arbeiten kamen nur langsam voran. Es dauerte über 150 Jahre, bis der Durchbruch 1789 vollendet war. Und trotzdem kam es 1795 zu einer weiteren verheerenden Überschwemmung. Der Kanal schützte Mexiko-Stadt nur vor Hochwasser aus den beiden nördlich gelegenen Seen. Stieg der Spiegel des Texcoco wegen anderer Ursachen, war die Stadt dem Wasser schutzlos ausgeliefert. 1796 begann man deshalb mit dem Bau weiterer Kanäle, um auch den Xaltocan und den Texcoco trocken zu legen.
«Bei allen hydraulischen Arbeiten im Tal von Mexico wurde das Wasser bloß als Feind betrachtet, gegen den man sich entweder durch Dämme oder durch Ausleerungskanäle verteidigen muss», schrieb von Humboldt in seinem Mexico-Werk. «Schöne Weiden gewannen nach und nach die Ansicht dürrer Steppen. In ganz großen Strichen zeigt der Boden des Tals nichts anderes mehr als eine Kruste von verhärtetem Ton ohne Vegetation und mit häufigen Rissen.»
*
Als von Humboldt Mexiko-Stadt in den Jahren 1803 und 1804 besuchte, schätzte er die Zahl ihrer Einwohner auf 137.000. Er hat auch ihre Fläche berechnet und maß ein Quadrat von 2750 Metern, also knapp über 7,5 Quadratkilometer. Die Stadt sollte in den kommenden zwei Jahrhunderten gewaltig anwachsen. Nach Zahlen des Nationalen Instituts für Statistik und Geografie hat sie irgendwann zwischen 1920 und 1930 die Millionengrenze übersprungen. 1960 waren es schon knapp fünf Millionen, 1970 fast sieben Millionen. 1980 wurden 8.831.079 Einwohner gezählt. Danach hat sich das Wachstum deutlich verlangsamt und stieg bis zum Jahr 2020 auf lediglich gut 9,2 Millionen an. Das hat damit zu tun, dass die Fläche des Verwaltungsbezirks von Mexiko-Stadt seit den 1980er-Jahren bis zum Rand besiedelt war.
Statt der Stadt selbst ist der Großraum des Molochs gewachsen, die sogenannte Metropolitanraum. Noch 1950 wohnte kaum jemand im Umland der Hauptstadt, gerade einmal rund 300.000 Menschen. Dann aber wurde das gesamte Hochtal zugebaut. 1960 lebten dort schon mehr als eine halbe Million Menschen, 1980 über vier Millionen und 1990 mehr als sieben Millionen. Damals hatte die Metropolitanraum 15,6 Millionen Einwohner. Im Jahr 2000 waren es 18,5 Millionen, 2010 über 20 Millionen und 2018 nach der letzten veröffentlichten Zahl 21,6 Millionen. Das Siedlungswerk der Vereinten Nationen prognostiziert 25,4 Millionen Einwohner für das Jahr 2035; im Rathaus rechnet man damit, dass 2050 in der Region der Metropole bis zu 40 Millionen Menschen leben werden.
Zum Flächenwachstum liefert das Nationale Institut für Statistik und Geografie sehr viel weniger Zahlen, aber auch die sind aussagekräftig. Für das Jahr 1940 nennt es für Mexiko-Stadt 137 Quadratkilometer, also das gut 18-fache der 7,5 Quadratkilometer, die von Humboldt 1804 berechnet hatte. 2020 waren es 1493,3 Quadratkilometer für Mexiko-Stadt und 7866 Quadratkilometer für die Metropolitanraum. Das heißt: in gut zweihundert Jahren ist die besiedelte Fläche um das gut Tausendfache angewachsen.
*
Um die ständig wachsende Bevölkerung mit Trinkwasser zu versorgen, begann man bereits im 19. Jahrhundert, mit Tiefbrunnen die natürlichen unterirdischen Wasserspeicher anzuzapfen. Um das Abwasser zu entsorgen, wurde die selbe Methode angewandt wie bei der Entwässerung der Seen: möglichst weit weg damit. 1866 begann man mit dem Bau des Gran Canal del Desagüe, den «Großen Abwasserkanal». Über weite Strecken bestand dieses Werk aus einem offenen Kanal und führte über 47.527 Meter in den benachbarten Bundesstaat México, wo er in die Reste des Zumpango-Sees mündete. Weil er stank wie ein nie gereinigtes Klo, begann man 2006, ihn mit einem Deckel zu versehen.
Zu dieser Zeit gab es schon zwei weitere mächtige Leitungen, in denen das Abwasser der Hauptstadt unterirdisch in den Norden geleitet wurden: den 1962 fertiggestellten Emisor Poniente und den 1975 in Betrieb genommenen Emisor Central. Auch sie endeten im Bundesstaat México. Doch alle drei Kanäle funktionierten nicht lange gut. Denn Mexiko-Stadt ist in den vergangenen hundert Jahren um über zehn Meter abgesunken, und es sinkt weiter. Weil dies nicht regelmäßig vonstatten geht, ist oftmals da, wo einst ein Gefälle war, eine Steigung entstanden. Das Abwasser muss darüber hinweggepumpt werden. Das vermindert die Kapazität der Leitungen erheblich.
Ein vierter großer Abwassertunnel, der 63 Kilometer lange Tunel Emisor Oriente, kurz TEO, soll dieses Problem lösen. Er führt unter dem Bundesstaat México hindurch bis in dessen Nachbarstaat Hidalgo. Wie lange er seinen Dienst tun wird, ist ungewiss, der Untergrund ist weiterhin in Bewegung. Ein wesentlicher Grund dafür sind die unzähligen Tiefbrunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird.
*
Die Stadt hat einen Wasserbedarf von mehr als 60.000 Litern pro Sekunde. Mehr als sechzig Prozent davon werden aus den natürlichen unterirdischen Wasserspeichern gepumpt. Das ist mehr, als durch einsickerndes Regenwasser wieder aufgefüllt wird. Selbst in Jahren mit durchschnittlichen Niederschlägen werden nur drei Viertel des entnommenen Wassers ersetzt. Durch den Klimawandel wird es absehbar weniger werden. Höhere Temperaturen lassen mehr Wasser verdunsten, Dürreperioden wie in den Jahren 2023 und 2024 werden häufiger auftreten. Und wenn es einmal regnet, wird das kein anhaltender Landregen sein. Der Niederschlag wird als Starkregen niedergehen, was zusätzliche Probleme für das Trinkwasser schafft. Die vom Himmel fallenden Wassermassen fließen so schnell und in so großen Mengen ab, dass sie nicht nutzbar aufgefangen werden können. Sie vermengen sich dabei mit Schmutzwasser, etwa von Straßen, und mit industriellen Abwässern. Das wenige, das versickert, ist mit Schadstoffen belastet. Die Nachfrage nach Trinkwasser aber wird steigen – wegen der zunehmenden Hitze und wegen der wachsenden Bevölkerung.
Dass dies nicht nur den Wassermangel der Megastadt verschärft, sondern längst auch ihre Stabilität gefährdet, hängt mit der Beschaffenheit ihres Untergrunds zusammen. Mexiko-Stadt wurde auf dem Boden ehemaliger Seen errichtet, die von hohen Bergen umgeben waren. Der zentrale Teil des Tals besteht aus weichem Ton, der sich einst auf dem Grund der Seen abgelagert hat. Entzieht man solchem Boden das Wasser, wird er immer kompakter und sinkt dabei ab.
Aber es gibt nicht nur diesen Ton im Untergrund. Aus der Talebene ragen ein paar isolierte Vulkankuppeln hervor. Dazu hat die Bergkette Sierra de las Cruces, die im Westen das Hochtal begrenzt, zur Zeit ihrer Entstehung vor gut sieben Millionen Jahren eine ganze Reihe von sogenannten Vulkanfächern gebildet, deren Ausläufer bis weit ins Tal hineinreichen. Auch im Osten und im Süden wird das Tal von Vulkanfeldern begrenzt, deren Eruptionen Spuren hinterlassen haben. Diese sind, genauso wie die Vulkanfächer und -kuppeln, aus Lava, die beim Erkalten zu hartem Basalt wurde. Der heutige Untergrund von Mexiko-Stadt besteht also aus zwei sehr unterschiedlichen Komponenten: die sehr weichen Sedimente der ehemaligen Seen und das sehr harte vulkanische Gestein.
Der zunehmende Verbrauch von Grundwasser hat einen sinkenden Wasserdruck im Untergrund zur Folge, der wiederum das gesamte ehemalige Seegebiet absinken lässt; seit dem Ende des 19. Jahrhunderts um rund zehn Meter, in manchen Gegenden sogar um 13,5 Meter. Wo der Untergrund aber vulkanischen Ursprungs ist, bleibt die Stadt stabil. Der Wechsel des Untergrunds und Spannungen in den austrocknenden Tonschichten führen immer wieder zu Rissen und Verwerfungen. Besonders oft kommen sie in Übergangszonen zwischen festen und weichen Böden vor. Bis 2014 wurden bereits 868 solcher Brüche dokumentiert, heute dürften es weit mehr als tausend sein. Die Kanalisation birst unter diesem Druck, U-Bahnschächte werden instabil.
Und schließlich liegt Mexiko-Stadt im Pazifischen Feuergürtel, wo sich die Kokos- und die Nordamerikanische Platte untereinanderschieben. Das führt immer wieder zu besonders starken sogenannten Subduktionsbeben. Zwar liegt die Stadt gut 300 Kilometer von der Zone entfernt, in der sich die Erdplatten übereinanderschieben. Aber die Erschütterungen solcher Beben können auch noch in dieser Entfernung verheerend sein. Der weiche Untergrund der Stadt aus Tonablagerungen hat die physikalische Eigenschaft, die Druckwellen eines Bebens um das bis zu Hundertfache zu verstärken.
*
Man kann mit bloßem Auge sehen, wie die Stadt versinkt. Am dramatischsten ist dies im historischen Zentrum. Der Zócalo, jener riesige Platz, der vom Nationalpalast, dem historischen Rathaus und der Kathedrale gesäumt wird und der niedrigste Ort der Stadt ist, lag im Jahr 1900 noch 2240 Meter über dem Meeresspiegel. Heute sind es gut neun Meter weniger. Der einst ebene Platz ist heute ein welliges Gelände mit deutlichem Gefälle nach Westen hin. Die Kathedrale, deren Grundstein noch der Eroberer Cortéz gelegt hatte und die erst 1813 vollendet wurde, war nie stabil. Der wuchtige Bau ist von Anfang an langsam im Boden versunken.
In der Mitte des Hauptschiffs hängt von der Decke herab ein großes Senkblei. Seine Bewegungen im Lauf der Jahrhunderte sind auf einer mit Daten versehenen Linie in die Marmorplatte darunter eingraviert. Die Zeichnung geht zurück bis ins Jahr 1573 und zeigt, wie das Mittelschiff langsam in Schräglage geriet. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich diese Bewegung beschleunigt. Mitte der 1980er-Jahre stand die Kirche so schief, dass der westliche Anbau einzustürzen drohte. Die Kathedrale wurde deshalb in den Jahren 1993 bis 1998 untergraben und auf einen Betonsockel gestellt. Sie sinkt weiter. Die Ingenieure hoffen, sie möge es wenigstens gleichmäßig tun.
Die Kathedrale ist nur das prominenteste Opfer des Absinkens der Stadt. Es gibt im Zentrum Gebäude, die nur noch dank eines Korsetts aus Stahlträgern aufrecht bleiben. Bisweilen geht man wie auf lange ausrollenden Ozeanwellen, und immer wieder gibt es mitten auf einer Straße einen Abbruch von mehreren Metern, der mit Treppen überwunden werden muss. Am schlimmsten ist es in Xochimilco. Dort gibt es Areale, die mit einer Geschwindigkeit von bis zu vierzig Zentimetern pro Jahr versinken.
Ein großer Teil des Feuchtgebiets ist heute ein Naherholungsgebiet. Dort kann man sich auf sogenannten Trajineras durch die Kanäle schiffen lassen. Es handelt sich dabei um große bunt angestrichene Flöße, die mit Bänken, Tischen und einem Sonnendach versehen sind. Vor allem an Wochenenden sind die Kanäle oft so verstopft mit Trajineras, dass man kaum mehr die Wasseroberfläche sieht. Die Geräuschkulisse erinnert an einen Rummelplatz. Und obwohl das illegal ist, entstehen auf immer mehr Chinampas einfache Restaurants mit den dazugehörenden Plumpsklos.
Das Ökosystem der Kanäle von Xochimilco stirbt einen vom Menschen verursachten Tod. Der Biologe Zambrano, der sich für dessen Restaurierung einsetzt, nennt die drei wesentlichen Ursachen: Da sei zum einen die zunehmende Verstädterung. Schnellstraßen und Brücken durchziehen das Feuchtgebiet, es entstehen neue Wohnsiedlungen und ganze Areale von Gewächshäusern. Zum zweiten wird die Qualität des Wassers immer verheerender. Es ist mit Schwermetallen, Pestiziden, Düngemitteln, Müll und Fäkalien belastet. Und schließlich die in den 1970er- und 80er-Jahren ausgesetzten Buntbarsche und Karpfen. Die Zahl der Axolotl nahm seither dramatisch ab. Bei einer Zählung 1995 gab es 6.000 Tiere pro Quadratkilometer Wasserfläche. 2004 waren es noch 2.000 und vier Jahre später nur noch hundert. Heute gibt es insgesamt deutlich weniger als tausend freilebende Tiere.
Das Wasser aus den Brunnen von Xochimilco deckt den Bedarf der Multimillionenstadt bei weitem nicht. 1942 wurde damit begonnen, Wasser von Flüssen aus dem Norden über gut zweihundert Kilometer nach Mexiko-Stadt zu bringen. Daraus ist im Lauf der Jahrzehnte ein System aus sieben Stauseen, sechs Pumpstationen und 334,4 Kilometern Kanalisation geworden, das man das Sistema Cutzamala nennt. Es ist das größte und teuerste Wasserversorgungssystem der Welt. Der gestaute Río Cutzamala liegt viel tiefer als Mexiko-Stadt. Das Wasser muss von 1600 Metern über dem Meeresspiegel auf 2700 Meter hinauf gepumpt werden, um dann wieder fast fünfhundert Meter in die Stadt herunter zu fließen. Die Pumpen verbrauchen dabei so viel Energie, wie die gesamte Stadt Puebla mit 1,5 Millionen Einwohnern. Rund vierzig Prozent des Frischwassers der Hauptstadtregion kommen aus dem Sistema Cutzamala.
Mit der Mischung aus Grundwasser und Stauseen ist die Versorgung von Mexiko-Stadt einer doppelten Dynamik unterworfen, sagt der Biologe Zambrano: «Unterirdische Wasserspeicher reagieren sehr langsam. Sie brauchen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, um sich zu füllen.» Und sie werden viel zu schnell geleert. «Die Wassermenge von Flüssen und Seen dagegen hängt davon ab, wieviel es in den Jahren zuvor geregnet hat.» Und es regnet im zentralen Hochland von Mexiko immer weniger – eine Folge des von Menschen gemachten Klimawandels. «Im vergangenen Jahrzehnt ist im Durchschnitt um 25 Prozent weniger Regen gefallen als noch in den 1980er-Jahren», weiß Zambrano. Seit dem Jahr 2020 spitzt sich die Situation dramatisch zu. Allein von 2022 auf 2023 sank die jährliche Regenmenge um 72 Prozent. Die Folge: Das Stauseesystem von Cutzamala hat derzeit nur noch knapp ein Drittel seiner früheren Kapazität.
Ofelia Silverio weiß, was das bedeutet. Die Sechzigjährige wohnt im Stadtviertel Ampliación Jiménez Cantú, weit im Nordwesten vom Zentrum von Mexiko-Stadt, dort, wo die Ebene in eine hügelige Landschaft übergeht. Silverio ist Haushaltshilfe, putzt und kocht bei drei Familien. Die robuste Frau mit kurzen schwarzen Haaren wohnt mit ihrer Tochter und deren zwei Kinder in einem schlichten zweigeschossigen Haus ohne Verputz. Davor stehen drei große schwarze Tanks, die 400, 800 und 1100 Liter Wasser fassen. Im Haus selbst gibt es etliche Zwanzig-Liter-Flaschen aus Plastik und Eimer und Schüsseln. Denn aus der Wasserleitung kommt nur alle drei Wochen einmal Wasser für zwei oder drei Stunden, meist mitten in der Nacht. Silverio lässt deshalb immer einen Wasserhahn geöffnet. «Wenn der zu gurgeln anfängt, weiß ich: Ich muss aufstehen und die Tanks füllen.»
Damit der Vorrat für vier Menschen über drei Wochen reicht, muss man sparsam sein. «Das Wasser, mit dem ich die Wäsche wasche, bewahre ich auf. Das verwenden wir für die Klospülung und um den Boden zu wischen.» Trinken könne man das, was aus der Leistung kommt, nicht. Es sei oft bräunlich, rieche brackig und schmecke nach Metall. Trinkwasser muss die Familie zukaufen.
Es ist schon oft vorgekommen, dass auch nach drei Wochen die Leitung trocken blieb. In diesem Fall gibt es auch am nächsten Tag kein Wasser, sondern noch einmal drei Wochen später. «Wir rufen dann einen Tanklaster, und das ist sehr teuer.» Rund zehn Prozent des Familieneinkommens von umgerechnet rund 500 Franken gehen alleine fürs Wasser drauf; wenn man einen Tanklaster braucht, noch mehr.
Der dreiwöchige Rhythmus funktioniert schon lange nicht mehr zuverlässig. Seit es immer weniger regnet, gibt es auch weniger Leitungswasser. Heute ist es selbst in Mittelklassevierteln so rationiert, dass die Zisternen von Wohnanlagen austrocknen. Auch dort kommt inzwischen der Tanklaster. Man sieht sie allenthalben in der Stadt. Beim Bezirksrathaus von Coyoacán etwa ist eine Füllstation. Aus an Galgen befestigten Rohren stürzt dort das Wasser in die Zisternenwagen. Es dauert keine fünf Minuten, bis einer gefüllt ist. Trotzdem stehen lange Schlangen davor.
Der Wasserstress, unter dem Mexiko-Stadt in diesem Frühjahr leidet, ist nur ein Vorbote dessen, was kommen wird.
*
Nach dem fünften Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) von 2014 wird die Temperatur in der Region von Mexiko-Stadt im Vergleich zum Mittel der Jahre 1986 bis 2005 zum Ende des Jahrhunderts um rund fünf Grad Celsius höher sein, die Höchsttemperatur am heißesten Tag des Jahres sogar um sechs. Und es kühlt nachts viel weniger ab. Die Zahl der sogenannten tropischen Nächte, in denen die niedrigste Temperatur stets höher als zwanzig Grad ist, könnte pro Jahr um mehr als hundert zunehmen.
Was erschwerend hinzukommt, ist der Effekt einer sogenannten Hitzeinsel: In der Stadt ist es wärmer als in ihrer unbebauten Umgebung. Das hat damit zu tun, dass die einfallende Sonnenstrahlung an der Erdoberfläche in zwei verschiedene Arten von Energie aufgespalten wird. Der eine ist der sogenannte sensible Wärmestrom, also das, was wir als Wärme spüren. Der andere ist der latente Wärmestrom: der Teil der Energie der Sonnenstrahlung, der nötig ist, um Wasser zu verdunsten. In Städten gibt es nur wenig Vegetation und Flächen, die Feuchtigkeit aufnehmen können. Entsprechend wird nur ein kleiner Teil der einfallenden Strahlungsenergie für die Verdunstung verwendet, der sensible Wärmestrom ist entsprechend größer. Nackte Flächen wie Dächer, Asphalt, Glas und Beton erwärmen sich mehr und mit ihnen die Luft darüber. Zudem wird die Wärmeenergie zwischen eng aufeinanderstehenden Gebäuden hin- und herreflektiert, was zu einem zusätzlichen Temperaturanstieg führt. Solche aufgeheizten Oberflächen geben die gespeicherte Wärme wird bis weit in die Nacht hinein ab.
Höhere Temperaturen verstärken auch die über vielen Großstädten übliche Glocke aus Smog. Die entsteht durch photochemische Reaktionen von Schadstoffen in der Luft und vieles deutet darauf hin, dass diese Prozesse bei höheren Temperaturen intensiver werden. So zeigt eine Studie aus Los Angeles, dass ab einer Temperatur von 22 Grad jedes Grad mehr zu einer Steigerung der Smogbelastung um fünf Prozent führt. Die Dunstglocke ist so etwas wie ein lokales Treibhaus mit dem entsprechenden Effekt. Sie verringert die Wärmerückstrahlung in den Weltraum. Die Hitze wird gewissermaßen unter der Glocke festgehalten.
Wegen der Hitzeinsel sind in Mexiko-Stadt in weiten Teilen des besiedelten Gebiets die Temperaturen in der Nacht um mehr als vier Grad Celsius höher als im Umland. In der Trockenzeit kann der Unterschied selbst bei Sonnenaufgang mehr als fünf Grad ausmachen. In der Regenzeit, wenn Niederschläge die Luft abkühlen, sind es immer noch an die drei Grad. Dieser Temperaturunterschied muss mit den prognostizierten Werten der Klimamodelle addiert werden. Das bedeutet im Fall eines eher günstigen Szenarios, dass es gegen Ende des Jahrhunderts im Zentrum von Mexiko-Stadt um bis zu acht Grad Celsius wärmer sein wird als es vor fünfzehn Jahren im Umland war. Bleibt klimapolitisch alles so, wie es derzeit ist, können es sogar mehr als zehn Grad werden.
Man muss dem nicht tatenlos zusehen, der Effekt der Hitzeinsel kann vor Ort angegangen werden. Am meisten helfen Grünflächen. In einem Stadtteil mit Bäumen und kleinen Parks kann die Temperatur um bis zu einem Grad niedriger sein als in einem aus Beton und Asphalt. Pflanzen nehmen Wasser auf und verdunsten es langsam, es wird ein größerer Teil der Strahlungsenergie in latente Wärme umgewandelt. Einen ähnlichen Effekt hat Asphaltbeton als Straßenbelag. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus grobkörnigem Gestein, Sand und Füllmittel wie Kalksteinmehl, das mit einem Asphaltbindemittel zusammengehalten wird. Straßen aus solchem Material können Wasser aufnehmen und kühlen dann bei dessen Verdunstung die Umgebung ab. Zudem kann Wasser durch einen solchen Belag dringen und ins Grundwasser versickern. Das reduziert nicht nur das Risiko von Überschwemmungen bei starken Wolkenbrüchen; es hilft auch dabei, die unterirdischen Wasserspeicher nachzufüllen. Das wird in Zukunft noch nötiger sein als heute. Alle Klimaprognosen sagen für Mexiko-Stadt eine Abnahme der Niederschläge voraus. Eine Studie der Stadtverwaltung geht bis zum Jahr 2030 von einem um 28 Prozent erhöhten Wasserbedarf aus, was vor allem an der Erschließung neuer Siedlungsgebiete liegt. Gleichzeitig wird die Verfügbarkeit von Wasser um zehn bis siebzehn Prozent abnehmen.
*
Es gibt zwar einen mehr als zweihundert Seiten starken Aktionsplan des Bürgermeisteramts aus dem Jahr 2021, mit dem Mexiko-Stadt bis zum Jahr 2030 auf den Klimawandel vorbereitet werden soll. Er bleibt jedoch Stückwerk, denn er bezieht sich nur auf das, was verwaltungstechnisch als Ciudad de México gilt, und dort leben nur etwas mehr als neun der weit über zwanzig Millionen Menschen der Metropolitanraum.
Ein paar der Maßnahmen aus diesem Plan wurden schon umgesetzt. So führen heute vier Seilbahnen über Arbeiterviertel am Rand des Verwaltungsbezirks. Die Stadtverwaltung hat ein paar Dutzend Elektro- und Oberleitungsbusse gekauft und auch etliche neue Metrozüge. Parallel dazu wurden die Parkflächen für Privatfahrzeuge reduziert, um die Menschen zum Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel zu zwingen. Das alles nützt etwas, aber eben nur ein bisschen. Gleichzeitig aber werden in Xochimilco neue Tiefbrunnen gebohrt. Das mag die Wasserkrise kurzfristig etwas lindern. Aber der Grundwasserspiegel wird dadurch weiter sinken, die unterirdischen Wasserspeicher schneller geleert.
Auch der Wasserspiegel in den Kanälen von Xochimilco sinkt. Die Chinampas müssen in der Trockenzeit bewässert werden. Dabei waren die schwimmenden Inseln so konzipiert, dass der Boden stets von allen Seiten befeuchtet wird. Die Voraussetzung dafür ist, dass das Wasser in den Kanälen so hoch steht, dass die Felder in der Regenzeit auch einmal überschwemmt werden können. Inzwischen aber ragen die Chinampas oft mehr als einen Meter über den Wasserspiegel, die Krume trocknet aus.
Ein niedriger Pegel bedeutet, dass die Wassermenge im Kanalsystem geringer und die Schadstoffkonzentration in der Folge höher geworden ist. Auch dieser Faktor ist für den Rückgang der Axolotl-Population mit verantwortlich. Es gibt nur noch fünf oder sechs kleine Abschnitte, in denen die Tiere überleben können. Dort gibt es jeweils nur ganz wenige Exemplare. Der Biologe Zambrano befürchtet deshalb, dass unter diesen Umständen viel zu wenige Männchen und Weibchen zusammenfinden, um die Population stabil zu halten.
Dass es in wissenschaftlichen Laboren und Heimaquarien abertausende dieser Tiere gibt, beruhigt ihn nicht. In freier Wildbahn schwimmen Axolotl gerne, ausdauernd und viel. Im Aquarium dagegen «sind sie faul und träge und bewegen sich kaum», sagt Zambrano. «Das ist für sie wie eine Gefängniszelle.» Sie fühlten sich zudem gestört. Axolotl verstecken sich tagsüber gerne – was in Laboren meist nicht möglich ist. «Im Aquarium leben sie unter Dauerfolter.»
Der argentinische Erzähler Julio Cortázar hat dieses Phänomen erkannt. «Es gab eine Zeit, in der ich viel an die Axolotl dachte», schrieb er in seiner Erzählung Axolotl. «Ich ging, um sie im Aquarium des Jardin des Plantes zu sehen und blieb stehen und beobachtete sie, betrachtete ihre Unbeweglichkeit, ihre dunklen Bewegungen.» Er sah sie sich jeden Tag an, und manchmal schienen sie ihm zuzurufen: «Rette uns, rette uns!»
Der Axolotl war das erste exotische Tier, das in den Aquarien europäischer Bürgerhäuser eingesperrt wurde. Schon 1879 bot der Berliner Zierfischzüchter Paul Matte Pärchen für fünfzehn bis fünfzig Mark an. Auch zwischen wissenschaftlichen Laboren gibt es seit 1867 einen schwunghaften Handel. Die ersten lebenden Schwanzlurche aus Xochimilco kamen 1864 in den Jardin zoologique d’acclimatation in Paris an. Es waren 34 Tiere, und davon reichte der Direktor des Tiergartens sechs an das Muséum d’Histoire weiter, fünf Männchen und ein Weibchen. Dort gelang der erste Züchtungserfolg. Schon 1867 waren aus den sechs Tieren rund 3300 geworden, von denen 2500 überlebt hatten. Von Paris aus verbreiteten sich die Lurche in Labore auf der ganzen Welt.
Zunächst Biologen, später auch Genetiker und Mediziner, sind von dem Tierchen fasziniert. Erst wollte man sie zu einer Metamorphose zwingen und so zu Salamandern machen. Man zwackte ihnen die Kiemenäste ab, damit sie zum Atmen an die Wasseroberfläche kommen. Doch nach ein paar Tagen waren die Kiemenäste nachgewachsen. Dann entzog man ihnen das Wasser und tatsächlich begannen etliche mit einer Metamorphose. Viele blieben in dieser Übergangsphase stecken, andere entwickelten sich nach einer Weile zurück zur Larve und die meisten starben. Aber tatsächlich ist es in sechs verbürgten Fällen gelungen, aus einem Axolotl einen Salamander zu machen.
Nach den Entwicklungsbiologen stürzten sich die Genetiker wegen deren Regenerationsfähigkeit auf die Labortiere. Sie sind inzwischen dem Geheimnis auf der Spur. Am 24. Januar 2018 meldete das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, es sei gelungen, das Genom des Axolotl zu entschlüsseln. Es ist zehn Mal so groß wie das des Menschen. Sergej Nowoshilow, einer der Autoren der Studie, wird in einer Pressemitteilung mit dem Satz zitiert: «Wir haben jetzt die genetische Karte in der Hand, mit der wir untersuchen können, wie komplizierte Strukturen – zum Beispiel Beine – nachwachsen können.» Derzeit versucht das Team zu verstehen, wie das Tier großflächige Verletzungen der Haut heilt.
Laboraxolotl sind problematische Tiere. Sie alle stammen fast nur von den sechs Exemplaren ab, mit denen 1864 die Laborzucht begann. Nur ganz selten wurde ein aus Xochimilco stammender Naturaxolotl dazugekreuzt. So sind die Labor- und Aquarientiere genetisch ziemlich gleich. Es gibt dafür eine Maßeinheit, den sogenannten Inzuchtkoeffizienten. Bei eineiigen Zwillingen liegt er bei hundert. 12,5 gelten bei Lebewesen als gesund für die Entwicklung. Der Koeffizient für Laboraxolotl liegt mit 35 fast drei Mal so hoch. Zambrano nennt sie deshalb «Klone». In der Gefangenschaft verlieren sie langsam die Eigenschaft, an der Forscher am meisten interessiert sind: ihre Regenerationsfähigkeit. Wenn die Forschung weitergehen soll, müssen die freien Tiere von Xochimilco überleben.
Zambrano glaubt, dass er das schaffen kann. Sein Spezialgebiet ist die Restaurierung von Ökosystemen, sein größter Feldversuch findet im Feuchtgebiet von Xochimilco statt. Vor bald fünfzehn Jahren begann er, im Kanalsystem kleine Schutzräume aufzubauen und Bauern davon zu überzeugen, auf ihren Chinampas traditionelle Landwirtschaft zu betreiben, ohne Kunstdünger und Pestizide. Sein Mitarbeiter Carlos Sumano, ein hoch gewachsener Agronom, der im Freien stets einen breitkrempigen Sonnenhut trägt, ist so gut wie jeden Tag vor Ort und besucht die rund zwanzig Chinamperos, die bei dem Feldversuch mitmachen. Inzwischen wurden zwanzig Schutzräume für die Axolotl geschaffen, zwischen 25 und 400 Meter lang, insgesamt 2,5 Kilometer. Sie wurden mit einer Barriere aus porösen Steinen vom Rest des Kanalsystems abgetrennt. Karpfen und Barsche können diese Schranke genauso wenig passieren wie Müll. Danach liegt ein langer Teppich aus heimischen Wasserpflanzen auf dem Kanal. «Das sind vaskulare Pflanzen», erklärt Sumano. «Sie nehmen Wasser auf und damit auch die darin enthaltenen Schadstoffe.»
Die Wasserqualität wird regelmäßig überprüft, auf die Schadstoffkonzentration, die Sauerstoffsättigung und die Temperatur. Axolotl lieben es sauerstoffreich und kühl, mehr als siebzehn Grad sollte das Wasser nicht haben. In den Schutzräumen ist es viel klarer als im Rest des Kanalsystems und es riecht auch nur nach Wasser und Pflanzen. Anfang des Jahres setzte Zambrano zwanzig Axolotl einen Chip ein, um sie mit einem Lesegerät identifizieren zu können. Dann wurden sie in großen Käfigen in den Schutzräumen versenkt. Die seien nötig, weil man die Tiere sonst nie wieder auffinden würde. Nun werden sie jede Woche herausgefischt, gemessen und gewogen. Das macht Sumano zusammen mit drei Studentinnen. Die tragen die Daten in Listen ein. Alle Tiere sind schon nach drei Monaten gewachsen und haben Gewicht zugelegt. «Sie fühlen sich wohl in diesem Wasser», sagt Sumano.
Cresencio Hernández ist Chinampero, verschmitzt und untersetzt. Sein Feld ist dreizehn Meter breit und 140 Meter lang. In den Kanalabschnitten darum herum liegen zwei dieser Käfige und er hilft mit seinen Mitarbeitern, die schweren Behälter aus dem Wasser zu hieven. Dann steigt eine der Studentinnen hinein und holt die Lurche heraus. Für die Wissenschaft tragen die Tiere Nummern. Hernández hat sich mit ihnen angefreundet und kann die vier Axolotl seiner Chinampa auseinanderhalten. Er hat ihnen Namen gegeben. «Das ist Fernando», sagt er, als einer von ihnen in einer Schüssel auf die Waage gelegt wird. «Der ist schön fett geworden.»
Hernández baut Eisbergsalat an, Rucola, Fenchel und Karotten. Dazu ein paar Zierpflanzen. Alles ohne Chemie. Anfangs hat er seine Ernte auf dem Großmarkt von Mexiko-Stadt verkauft. Was dort die Händler bezahlten, reichte nicht zum Leben. Dann haben sich die Bauern des Feldversuchs zusammengeschlossen und besitzen nun eigene Stände auf zwei Märkten. Der Direktverkauf bringt viel mehr Einnahmen. «Am Anfang waren die Kunden skeptisch, wegen des Dreckwassers in den Kanälen», erzählt der Bauer. «Aber als wir ihnen sagten, es sei bei uns so sauber, dass es sogar Axolotl gebe, da waren sie überzeugt.» Sumano drückt das wissenschaftlicher aus: «Der Axolotl ist ein Indikatortier für die Wasserqualität.»
Der Feldversuch wird noch Monate dauern, «aber eigentlich haben wir schon gezeigt, dass es funktioniert», sagt der Agronom. Natürlich brauche man sehr viel mehr Fläche als die 2,5 Kilometer der Schutzräume. Aber es sei möglich, den Axolotl und das Feuchtgebiet zu retten.
Einfach wird das nicht werden, aber Xochimilco kann überleben. Warum nicht auch Mexiko-Stadt?
Juli 2024