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Den Knochen einen Namen geben

Den Knochen einen Namen geben

Seit dreißig Jahren untersuchen forensische Anthropologen aus Argentinien die Gebeine der Opfer von Staatsterrorismus in aller Welt. Auch das Skelett von Ernesto Ché Guevara wurde mit ihrer Hilfe identifiziert. Von Toni Keppeler und Cecibel Romero.

Die jüngste Lieferung war ein Alptraum. Es enthielt eine Hand voll Kohlestückchen in einer Plastiktüte, keines größer als zwei Zentimeter. Laien könnten das für ein Überbleibsel einer Grillparty halten. Sofía Egaña ist forensische Anthropologin und weiß: es sind Knochenreste. Das, was von einem politischen Gefangenen übrig blieb. Oder war es eine politische Gefangene? Oder waren es mehrere?

Die Person, von der der größte verkohlte Knochensplitter stammt, wurde irgendwann während der von 1976 bis 1983 dauernden Militärdiktatur in Argentinien von Sicherheitskräften entführt, gefoltert, ermordet. Ihre Leiche wurde zusammen mit anderen im Hof eines Polizeikommissariats verbrannt. Was übrig blieb, haben die Täter an Ort und Stelle verscharrt. „Es war das erste Mal, dass wir in einer Einrichtung von Sicherheitskräften ein Massengrab  ausheben konnten“, sagt Egaña. „Wir haben Monate lang dort gearbeitet.“ Es dürfte dutzende, wenn nicht hunderte weitere solcher Gräber geben. Die meisten sind noch gar nicht entdeckt worden.

„Feuer ist das Schlimmste“, sagt Egaña. „Es zerstört die DNA und am Ende bleibt nur Kohle.“ Sie trägt Gummihandschuhe wie ein Chirurg, dreht eines der größeren Stückchen zwischen den Fingern und man sieht in ihrem Gesicht, wie ihr Gehirn arbeitet. Zu welchem Knochen könnte das passen? Bislang hat das Partikel nur einen Code aus Zahlen und Buchstaben. Irgendwann soll der durch einen Namen ersetzt werden – den Namen des Opfers. Der Splitter wird dann den Angehörigen übergeben, die Dokumentation der akribischen wissenschaftlichen Recherche geht als Beweismittel an ein Gericht, das die Täter verurteilen soll. Wie lange das dauert? Im glücklichsten Fall ein paar Wochen. Eher Monate oder Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte. Frauen wie Sofía Egaña brauchen Geduld. Sie brauchen Hoffnung und viel Wissen. Und sie müssen felsenfest überzeugt sein von dem, was sie tun.

Sofía Egaña hat Geduld und dazu ein sonniges Gemüt. Das hilft jedenfalls, diesen Beruf zu ertragen. Sie ist schwnger; mit 43 Jahren erwartet sie ihr erstes Kind. „Ich hatte vorher einfach keine Zeit dazu“, sagt sie und lacht. Ständig unterwegs, immer auf Ausgrabungsfeldern, Skelette über Skelette und alle Opfer schrecklichster Verbrechen. Wer denkt da schon an Kinder? Sie hat schon vielen Knochen einen Namen gegeben und wenn sie davon erzählt, leuchten die honigbraunen Augen. Seit sechszehn Jahren arbeitet sie beim Equipo Argentino de Antropólogos Forenses, der Argentinischen Arbeitsgruppe forensischer Anthropologen (EAAF). 1985 hat diese Nichtregierungsorganisation damit begonnen, Reste von Verschwundenen zu identifizieren: von Menschen, die während der Militärdiktatur verschleppt wurden und nie wieder aufgetaucht sind. Rund fünfhundert Skelette oder Teile davon hat EAAF in dreißig Jahren Arbeit an die Angehörigen der Opfer übergeben können. In den Gängen und Zimmerchen hinter dem Labor lagern weitere achthundert in Kisten, die bislang nur einen Code tragen. Von mindestens zehntausend Opfern der Diktatur wurden bis heute keine Überreste gefunden.

Es gibt noch Arbeit für Jahrzehnte in Argentinien, vom Rest der Welt ganz zu schweigen. Die Anthropologen vom EAAF haben in bereits in über vierzig Ländern gearbeitet, unter anderem in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien, in Südafrika, in Guatemala. In Bolivien haben sie die Gebeine von Ernesto Ché Guevara identifiziert und zuletzt haben sie in Mexiko gearbeitet, am Fall jener 43 Studenten, die vor bald acht Monaten in Iguala von Polizisten entführt worden sind. Auch von ihnen hat man bislang nicht mehr als ein paar verkohlte Splitter gefunden (siehe „Zweifel an der Staatsanwaltschaft“).

„Am einfachsten sind ganze Skelette“, sagt Egaña. Ein solches liegt auf ihrem mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Labortisch, Schädel und Gebiss sind ohne Verletzungen. Ein Glückfall. Sie bindet sich den Haarschopf zu einem Pferdeschwanz zusammen, dass er ihr nicht ins Gesicht fällt, wenn sie sich tief über die Knochen beugt. Der Mensch, der jetzt als Skelett vor ihr liegt, war deutlich größer als sie, mindestens einen Meter siebzig. Wenn sie in seine Augen blickt, entsteht fast so etwas wie Blickkontakt. Mit den Plastikskelett, das zu Schulungszwecken im Gang steht, macht sie gerne Scherze.

Das Labor war einst das Wohnzimmer einer Stadtwohnung. Die Wände in der Farbe von Eierschalen, Türen und Fensterrahmen lila lackiert. Nicht renovierter Altbau. Lägen da nicht die Skelette auf den Tischen, könnte man an eine studentische Wohngemeinschaft in einem etwas heruntergekommen alten Herrenhaus in Kreuzberg denken. An den Wänden keine Poster, sondern Tafeln mit einem Skelett oder Zahnschemata zum Abgleich. Die Wohnung liegt in der Avenida Rivadavia, gerade einmal zehn Häuserblocks vom neoklassizistischen Kongressgebäude entfernt, wo die Touristenmeile endet. Hier ist es nicht mehr ganz so schick, von vielen Häusern blättert die Farbe. Auf den Gehsteigen breiten Straßenhändler auf Tüchern ihre Waren aus: T-Shirts, Kappen, Schulbedarf, Spielzeug. Die Büros von EAAF sind im ersten, das Labor ist im zweiten Stock eines alten Stadthauses. Kein Schild weist darauf hin. Auf der Messingplatte mit den Klingeln steht nur: 1. Stock, 2. Stock. Die Eingangstüren werden von Kameras überwacht. Viele Täter von damals laufen noch heute frei herum. In diesen beiden Stockwerken könnten die Beweise gesichert werden, die sie hinter Gitter bringen sollen.

„Schwieriger ist es, wenn wir mehrere Skelette haben, die einfach übereinandergeworfen wurden, so dass sich die Knochen vermischt haben“, sagt Egaña. Dann beginnt die Arbeit im Labor mit einem mühseligen Puzzle. „Und oft haben wir nur Knochenteile.“ In Uruguay etwa haben die Militärs gegen Ende der Diktatur (1973 bis 1985) die verscharrten Leichen ihrer Folteropfer wieder ausgegraben und ins Meer geworfen. Sie nannten diese Beweisvernichtung „Operation Karotte“. Wenn die ursprünglichen Gräber heute exhumiert werden, finden die Ausgräber selten mehr als ein paar achtlos liegen gelassene Knochensplitter.

Am Anfang der Geschichte der EAAF standen viele Skelette, sehr viele. Ganze Knochenberge, von denen niemand wusste, ob und wie viele Opfer der Militärschergen darunter waren. Nach der Diktatur in Argentinien hatte der demokratisch gewählte Präsident Raúl Alfonsin Ende 1983 die „Nationale Kommission zum gewaltsamen Verschwinden von Personen“ (Conadep) bestellt, eine Art Wahrheitskommission, die das Schicksal der – je nach Schätzung – zwischen mehr als 10.000 und bis zu 30.000 Verschwundenen aufklären sollte. Die Zahl ist bis heute umstritten. Im Jahr darauf begannen die ersten Prozesse gegen Generäle, die zuständigen Untersuchungsrichter ordneten Exhumierungen zur Beweisfindung an. Bautrupps wurden auf die Friedhöfe geschickt, um mit schwerem Gerät die Gräberfelder der namenlosen Toten auszuheben. Doch die Angehörigen der Verschwundenen, allen voran die Mütter der Plaza de Mayo, trauten den Richtern nicht: Gerichte und Militärs hatten während der Diktatur stets Hand in Hand gearbeitet. Die Richter waren Komplizen der Täter.

Auf Druck der Mütter der Plaza de Mayo lud die Regierung 1984 eine internationale Expertendelegation aus Genetikern und Anthropologen nach Argentinien ein und die war angesichts der Knochenberge auf den Friedhöfen und der Plastiktüten voller Gebeine ohne jegliche Identifizierung in den gerichtsmedizinischen Instituten entsetzt. Ihr Urteil: Bei solchen Ausgrabungen wird mehr zerstört als gesichert. In einem dramatischen Aufruf forderten sie die Regierung auf, die Exhumierungen sofort einzustellen.

Eines der Mitglieder jener Delegation war der im vergangenen Jahr verstorbene Clyde Snow, ein us-amerikanischer Anthropologe, der sich auf die Analyse von Knochen spezialisiert und damit in Fachkreisen Weltruhm erlangt hatte. Snow hatte unter anderem die Knochen des altägyptischen Königs Tutanchamun untersucht und die Gebeine des 1979 in Brasilien unter falschem Namen verstorbenen deutschen Nazi-Arztes Josef Mengele identifiziert. In Buenos Aires rief er Archäologen, Anthropologen und Mediziner zusammen, um mit ihnen erste beispielhafte Exhumierungen nach wissenschaftlichen Methoden durchzuexerzieren. Aus dieser Gruppe ist ein Jahr später EAAF entstanden.

Es blieb nicht beim Pilotprojekt. In den folgenden fünf Jahren kam Snow immer wieder nach Argentinien, um junge Leute in forensischer Anthropologie auszubilden, jener damals noch jungen Disziplin, die Methoden der Archäologie und der Anthropologie kombiniert. Sieben aus dieser ersten Gruppe arbeiten noch heute bei EAAF. Silvana Turner ist eine der älteren, seit 1988 ist sie dabei. Forensische Anthropologen, erklärt sie, „hat es in dem Sinn vorher gar nicht gegeben“. Anthropologen beschäftigen sich meist rein akademisch entweder mit längst ausgestorbenen uralten oder mit heute noch existierenden Kulturen. Knochen geben ihnen Hinweise auf das alltägliche Leben. „Wir arbeiten nicht akademisch, sondern in einem juristischen Umfeld: Wir helfen mit bei der Aufklärung von Verbrechen und sichern Beweise für Prozesse.“ Und im Gegensatz zu Gerichtsmedizinern, die an ganzen Leichen mit Gewebe arbeiten, „haben wir nur Gebeine“. Weil von Anfang an auch Archäologen mit in der Gruppe waren, „wissen wir, wie man Gräber wissenschaftlich korrekt aushebt“. Schon die ersten Urteile gegen die Chefs der argentinischen Militärdiktatur stützten sich unter anderem auf Beweise, die von EAAF gesichert und dokumentiert worden waren.

In solchen Prozessen treten Mitglieder von EAAF dann als Sachverständige auf – ein Begriff, der Tuner gar nicht gefällt. „Wir sind keine Sachverständigen, Hilfskräfte der Justiz, die ein Gericht zur Analyse von ein paar Knochen anfordern kann“, sagt sie. „Wir sind im Grund eine Menschenrechtsorganisation.“ Von Anfang an war klar: die Gruppe arbeitet nicht im Auftrag von Staaten oder Regierungen. „Wie auch? In aller Regel untersuchen wir Fälle von Staatsterrorismus. Wir arbeiten auf der Seite der Angehörigen der Opfer.“ Gespräche mit diesen Angehörigen und eine Recherche zu den genauen Umständen der Morde stehen am Anfang der Arbeit. Abgeschlossen ist ein Fall erst, wenn gefundene Gebeine identifiziert und an die Angehörigen übergeben wurden und wenn die Dokumentation des entsprechenden Falles auf dem Tisch eines Gerichts liegt. „Wir sind davon überzeugt, dass eine Gesellschaft Zeiten des Staatsterrorismus’ nur dann verarbeiten und überwinden kann, wenn man die historische Wahrheit kennt und wenn über die Schuldigen Recht gesprochen wird“, sagt Turner. Grundlage – für die Wahrheitsfindung wie für die Rechtssprechung – ist saubere wissenschaftliche Arbeit.

Man spürt Silvana Turner an, wie ihre Arbeit sie umtreibt. Sie ist nicht vom Typ sympathischer Kumpel wie Sofía Egaña. Eher kann man sich vorstellen, dass sie noch in ihren Träumen von Skeletten verfolgt wird. Sie ist groß, schmal und ein bisschen fahrig. Sie blickt wie erschreckt, spricht schnell, fast gehetzt. Sie macht keine Witze nebenbei.

Unter Fachleuten war der wissenschaftliche Standard von EAAF schnell bekannt. Seit 1986 arbeiten die Argentinier auch in anderen Ländern Lateinamerikas, 1996 wurden sie vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien mit der Exhumierung von Massengräbern in Bosnien und Kroatien beauftragt. „Dieser Sprung nach Europa verschaffte uns internationale Aufmerksamkeit“, sagt Turner. Es folgten Aufträge von Wahrheitskommissionen in aller Welt. Natürlich in Lateinamerika (etwa in Peru, Chile oder Guatemala), aber auch in Afrika (in Südafrika, Namibia oder der Demokratischen Republik Kongo), in Asien (in Kurdistan, Osttimor, Indonesien) und in Europa (in Zypern, Georgien oder Rumänien). „Es gab einen richtigen Boom von Wahrheitskommissionen“, erinnert sich Turner. „Und es gab keine andere vergleichbare Organisation.“

Aber EAAF arbeitet nicht nur für die Vereinten Nationen, sondern oft auch für lokale Menschenrechtsorganisationen. In El Salvador etwa unterstützt die Organisation seit Jahren die Angehörigengruppe „Pro búsqueda“, die nach Kindern sucht, die im Bürgerkrieg vom Militär verschleppt wurden. Im Norden von Mexiko in Ciudad Juárez versuchen die Anthropologen, im Auftrag der Angehörigen die Gebeine von hunderten dort ermordeter Frauen zu identifizieren. Die Arbeit in Argentinien geht derweil weiter. „Mit Ausgrabungen auf öffentlichen Friedhöfen haben wir angefangen“, sagt Turner. „Jetzt geht es mehr und mehr um geheime Massengräber, die oft auf dem Gelände militärischer Einrichtungen sind.“

Rund 50 Mitarbeiter arbeiten ständig für EAAF, verteilt auf die Zentrale in Buenos Aires und eine Außenstelle in Córdoba im Zentrum des Landes, wo das Labor für DNA-Analysen untergebracht ist. Seit 1993 unterhält die Organisation auch eine Vertretung in New York, nicht nur wegen der Nähe zur Uno, einem der wichtigen Auftraggeber. „Dort leben auch viele Philanthropen“, erklärt Turner – Menschen, die ob ihrer Millionen ein schlechtes Gewissen haben und dies mit Spenden erleichtern wollen. Vor allem die Arbeit für kleine Menschenrechtsorganisationen braucht solche Spender.

Zur Vertretung in New York kommen ständige Büros in Mexiko und Südafrika. Und weil die Delegationen bei Auslandseinsätzen nicht nur Gräber ausheben und Knochen identifizieren, sondern auch lokale forensische Anthropologen ausbilden, sind in Chile, Guatemala, Kolumbien und Peru inzwischen selbständige Organisationen oder nationale Netzwerke von Fachleuten entstanden. Für den wissenschaftlichen Austausch zwischen diesen Gruppen und Fachleuten sorgt die von EAAF mitgegründete „Lateinamerikanische Vereinigung forensischer Anthropologen“, die regelmäßig regionale Kongresse veranstaltet.

Neben all der Arbeit im Feld und dem Aufbau eines weltweiten Netzwerkes haben die Anthropologen aus Argentinien auch entscheidend daran mitgearbeitet, wissenschaftliche Standards für die Exhumierung und Identifizierung von Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen zu erarbeiten. „Wir folgen einer genau festgelegten Routine“, erklärt Sofía Egaña im Labor: Am Anfang steht immer eine ausführliche Recherche. „Wir wollen alles wissen über den Konflikt, der zu den Verbrechen geführt hat, die wir untersuchen.“ Was weiß man über Täter, über Opfer, über Orte? Gibt es Zeugen oder örtliche Organisationen, die über den Konflikt geforscht haben? „Wir müssen die kulturellen Eigenheiten der jeweiligen Länder kennen, die physiologischen Eigenschaften der Menschen.“ Beim chilenischen Volk der Mapuche etwa seien Frauen oft so stämmig, dass man ihr Skelett leicht mit dem eines Mannes verwechseln könne. Aber auch ganz einfache Daten gehören zur Vorbereitung: „Wir müssen wegen der Ausgrabungen wissen, wann Regenzeit ist und wann Trockenzeit; und wir müssen wissen, welche Waffen eingesetzt wurden.“ In Lateinamerika etwa haben die Militärs ihre Opfer meist mit Schusswaffen umgebracht. „Es macht aber keinen Sinn, einen Schusswaffenexperten mit nach Ruanda zu nehmen, weil dort fast nur mit Macheten gemordet wurde.“

Auch vor Ort wird nicht gleich gegraben, zuerst werden die Angehörigen der Opfer befragt. Alle Hinweise können für die Identifizierung von Gebeinen wichtig sein: Größe und Gewicht, Knochenbrüche zu Lebzeiten, Krankheiten, die Spuren auf den Knochen hinterlassen können. Ob ein Opfer Links- oder Rechtshänder war. „Bei Menschen, die körperlich gearbeitet haben, können wir das am Skelett erkennen“, sagt Egaña. Dazu kommen alle offiziellen Dokumente, die zugänglich sind. Unterlagen aus Militärarchiven etwa. Oder im Fall der namenlosen Gräber auf öffentlichen Friedhöfen in Argentinien die Eingangsbücher der Friedhofsverwaltungen und die beigefügten Totenscheine von Ärzten.

„Vor dem Militärputsch von 1976 wurden in solchen anonymen Gräbern fast ausschließlich ältere Leute beerdigt, die eines natürlichen Todes gestorben waren: Bettler, die auf der Straße lebten. Nach dem Putsch stieg die Zahl dieser unbekannten Leichen rasant an und es waren meist junge Leute, die Schussverletzungen erlegen waren.“ Anscheinend gaben sich die Militärs zu Beginn der Diktatur keine große Mühe mit dem Beseitigen der Leichen.

Aber nicht immer ist es leicht, Gräber aufzufinden. „Um Hinweise auf geheime Friedhöfe in militärischen Einrichtungen zu bekommen, braucht es oft echte krimininalistische Arbeit“, weiß Egaña. Auch nach den Gebeinen von Ché Guevara wurde zwei Jahre lang gesucht. Man wusste nur, dass sie irgendwo rund um eine Landpiste im bolivianischen Vallegrande verscharrt worden waren und fand zunächst nur Skelette von seinen Gefährten.

Die Exhumierung selbst läuft dann ab wie eine wissenschaftliche archäologische Ausgrabung. Millimeter um Millimeter, Schicht um Schicht wird das Erdreich abgetragen, oft mit Pinselchen und Bürstchen. Alles, was dabei ans Licht kommt, wird, bevor es aufgesammelt wird, an seinem Ort fotografisch und auf Zeichnungen dokumentiert und bekommt einen Zahlencode. Nicht nur Knochen werden so registriert, auch alle anderen Gegenstände: Projektile und Patronenhülsen, Stricke oder Kabel, Reste von Kleidungsstücken – alles kann ein Beweismittel sein. „Wir wollen nicht nur herausfinden, wer dort begraben liegt“, sagt Egaña. „Wir wollen auch rekonstruieren können, was genau passiert ist.“

Alles, was gefunden wurde, kommt in eine Kiste. Ein Richter sichtet deren Inhalt und bestätigt ihn in einem Protokoll. Dann wird die Kiste versiegelt und ins Labor geschickt. Dort wird sie geöffnet, ihr Inhalt wird mit dem Protokoll des Richters abgeglichen. „Jedes noch so kleine Teilchen wird vom Anfang bis zum Schluss verfolgt und dokumentiert“, erklärt die Anthropologin. „Nur dann kann es als Beweismittel in einem Prozess Bestand haben.“

Im Labor müssen die Anthropologen zunächst grundsätzliche Fragen klären: handelt es sich um Knochen von Menschen oder von Tieren? Sind es archäologische Gebeine aus grauer Vorzeit oder handelt es sich um Skelette aus der jüngeren Zeit? Stammen sie von einem oder von mehreren Menschen? Sind die einzelnen Teile dann zugeordnet, können die Informationen aus den Gesprächen mit Angehörigen weiterhelfen. Auf Grund von Knochenmaßen und Schädeldecke etwa kann grob das Alter beim Todeseintritt bestimmt werden. Die Beckenknochen geben häufig – aber nicht immer – Auskunft über das Geschlecht. Knochenbrüche führen schon näher an bestimmte Personen. Egaña unterscheidet da in Frakturen, die zu Lebzeiten erlitten wurden, solchen, die beim Eintritt des Todes durch Schläge oder sonstige Gewalt zustande gekommen sind und wieder andere, die etwa durch Tiere erst an der Leiche verursacht wurden. „Man erkennt das an der Bruchstelle“, sagt sie. „Lebende Knochen reagieren anders als tote.“

Die individuellsten Informationen enthält das Gebiss – sofern das Opfer zu Lebzeiten beim Zahnarzt war. Die Zähne von Ché Guevara etwa waren in den Unterlagen der kubanischen Gesundheitsbehörde bestens dokumentiert.

Erst wenn diese klassischen Methoden erschöpft sind, entnehmen die Anthropologen den Gebeinen eine Probe für einen DNA-Test. „Früher gab es weltweit nur wenige Labore, die so etwas machen konnten, und das war sehr teuer“, erzählt Egaña. „Wir haben das nur in Auftrag gegeben, wenn wir alle klassischen Methoden ausgeschöpft und immer noch Zweifel hatten.“ Heute hat EAAF im eigenen DNA-Labor eine Datenbank mit Proben von über 10.000 Angehörigen argentinischer Opfer und kann sie routinemäßig mit denen aus Gebeinen abgleichen. Die Zahl der eindeutigen Identifizierungen ist seither rapide gestiegen. Aber ganz sicher ist diese Methode nicht. „Manchmal haben wir zum Vergleich nur eine Probe von einem weit entfernten Verwandten. Da mag es zwar Ähnlichkeiten geben, aber es bleiben Zweifel.“

Erst wenn alle verfügbaren Methoden zum selben Namen, zur selben Person führen, werden die Verwandten informiert. Gleich neben dem Labor ist ein kleines Zimmerchen mit einer schwarz ausgeschlagenen Bahre. Dort werden die Reste ausgelegt. Die Angehörigen können dann mit dem, was von den Verschwundenen wieder gefunden wurde, eine Zeit lang alleine sein. „Nach zwanzig oder dreißig Jahren sind die meisten erleichtert, etwas zu haben, das sie begraben können“, sagt Egaña. „Sie können den Trauerprozess endlich abschließen.“ Viel schwerer sei es, wenn das Verschwinden erst ein Jahr oder noch weniger zurückliegt, wie etwa bei den ermordeten Frauen von Ciudad Juárez. „Die Angehörigen hofften bis zuletzt darauf, sie lebend wieder zu sehen, und wir können ihnen nur noch Knochen präsentieren.“

Was aber ist mit den Gebeinen, die selbst mit einem DNA-Abgleich nicht identifiziert werden können? „Die kommen ins Archiv“, sagt Egaña. Sie meint damit das Zimmer, das früher wohl die Speißekammer war: Ein festerloser Raum mit Regalen bis unter die Decke, vollgestellt mit Plastik-Containern, so lange wie ein Oberschenkelknochen. An der Vorderfront ein Code aus Buchstaben und Zahlen. Ungelöste Fälle. Vielleicht findet sich ja noch ein näherer Verwandter mit einer eindeutigen DNA-Probe. „Oder die Wissenschaft erfindet irgendwann neue Methoden.“ Aufgegeben wird nie. Ein Fall ist erst abgeschlossen, wenn ein Knochen keinen Nummerncode mehr trägt, sondern einen Namen.

August 2015


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