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Der Korridor des Todes

Der Korridor des Todes

Zehntausende Haitianer sind unterwegs von Südamerika in die USA. Die gefährlichsten achtzig Kilometer führen von Kolumbien nach Panamá. Dort lauern Wegelagerer, Paramilitärs und Geschäftemacher. Von Toni Keppeler (Text) und Andrés Vanegas Canosa (Fotos).

Fünfhundert Milliarden Pesos sind viel Geld. Fünfhundert Milliarden, das ist eine Fünf mit elf Nullen dahinter. Kolumbianer sind es gewohnt, mit großen Summen zu jonglieren, aber fünfhundert Milliarden sind selbst für sie zuviel. Man drückt es leichter in US-Dollar aus, dann sind es gut 120 Millionen. So viel Geld haben Migranten auf dem Weg von Necoclí an der karibischen Küste von Kolumbien bis zur Grenze mit Panamá allein im Jahr 2021 ausgegeben. Mindestens. Vielleicht waren es auch 150 oder 180 Millionen, so genau weiß das niemand. Das meiste davon wurde in Dollars bezahlt und wanderte in schwarze Kassen, vor allem in die der rechten paramilitärischen Truppe der „Autodefensas Gaitanistas de Colombia” (AGC). Die beherrscht das Gebiet zwischen Necoclí und der Grenze mit Panamá, und sie verlangt viel Geld von allen, die es passieren wollen.

Von Necoclí bis Panamá sind es eineinhalb Stunden mit einem Schnellboot über den Golf von Urabá nach Acandí. Dann folgen zwei Tage Fußmarsch. Der erste führt über fast schattenlose Viehweiden, der zweite durch dichten Dschungel. Ungeübte Wanderer brauchen dafür auch drei oder gar vier Tage, vor allem, wenn sie Kinder dabei haben. Rund fünfzig Kilometer übers Meer und beschwerliche knapp dreißig Kilometer über Land. Die achtzig Kilometer sind mit die teuersten auf einer Reise von rund 16.000 Kilometern. So weit ist es auf dem Landweg von Santiago de Chile bis in die Gegend von New York. Die meisten der Migranten sind Haitianer. Sie haben oft viele Jahre in Chile gelebt und gearbeitet. Nun sind sie auf dem Weg in die USA. Fast eine Million ihrer Landsleute lebt in der Gegend von New York. Allenfalls mexikanische Schlepper verlangen für den illegalen Grenzübertritt in die USA noch mehr Geld als die Paramilitärs für den Weg von Necoclí bis zur Grenze mit Panamá.

Dafür sind diese achtzig Kilometer vergleichsweise sicher. Das gefährlichste Stück der Reise beginnt an der Grenze: der feucht-heiße Regenwald des Darién-Nationalparks. Man geht auf glitschigen Pfaden, klettert steile Anstiege hinauf und überquert Wasserläufe, die nach einem tropischen Sturzregen schnell zu reißenden Flüssen werden. Am Wegesrand lauern bewaffnete Banden. Viele Migranten werden überfallen und ausgeraubt, viele Frauen vergewaltigt. Trainierte junge Leute schaffen die Strecke in drei Tagen, Familien mit Kindern brauchen bis zu sechs. Und viele bleiben für immer auf diesem Weg. Sie ertrinken, verletzten sich nach einem Sturz und können nicht mehr weiter, oder sie sterben einfach an Erschöpfung.

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Necoclí ist ein heruntergekommener Badeort am Golf von Urabá. Im Hinterland reiht sich eine Bananen-Plantage an die nächste, nur unterbrochen von schmalen Landepisten, auf der kleine gelbe Sprühflugzeuge, die ein bisschen an Sturzkampfbomber aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern, auf ihren nächsten Chemie-Einsatz warten. Das 70.000-Einwohner-Städtchen hat nichts Attraktives. Breite staubige Straßen, schmucklose ein- und zweigeschossige Häuser. Die Läden sind dunkel und wirken eher wie Garagen. Es gibt kein historisches Zentrum mit kolonialen Gebäuden. Selbst die Kirche ist schlicht und sieht so aus, als wäre sie in den 1950er-Jahren möglichst billig errichtet worden.

Was Necoclí Urlaubern zu bieten hat, sind schwüle karibische Hitze und einen zwei Kilometer langen schmalen Strand. Hier reiht sich ein Kiosk an den anderen, jeder macht mit seiner Musikanlage dem Nachbarn Konkurrenz. An Wochenenden wummern die Bässe bis in den Morgen hinein. Noch im Oktober vergangenen Jahres lagerten an diesem Strand mehr als 20.000 Migranten. Heute stehen dort Schilder: „Campieren verboten”. Nur eine Handvoll Familien hält sich nicht daran und hat, meist hinter einem Kiosk versteckt, kleine Zelte aufgebaut. 

Am Strand von Necoclí wird Migranten alles angeboten, was sie angeblich für den Dschungel brauchen.

Zwischen August und Oktober vergangenen Jahres kamen in Necoclí jeden Tag mehr Migranten an, als auf die andere Seite des Golfs verfrachtet werden konnten. Das Problem ist inzwischen behoben. Das Geld, das die Durchreisenden ausgegeben haben, wurde von Geschäftsleuten in eine gewinnbringende Infrastruktur investiert. Neben dem zentral gelegenen Touristenhafen gibt es nun eine zweite einfache Mole ganz am Ende des Strands. Die ist ausschließlich für Migranten da. Der Zutritt zum Touristenhafen ist ihnen untersagt. Urlauber bezahlen 75.000 Pesos, um auf die andere Seite des Golfs zu kommen. Von Migranten verlangt man einen Kilometer weiter 180.000, an manchen Tagen auch 200.000 Pesos. Drei oder vier Schnellboote mit einer ganzen Reihe dicker Außenbordmotoren am Heck legen dort jeden Morgen mit jeweils neunzig Passagieren ab.

Sie haben sich vorher am Strand von Necoclí mit allem eingedeckt, was man für die Dschungeldurchquerung angeblich braucht. Der Fußweg vor den Kiosken ist mit improvisierten Verkaufsständen zugestellt, die einfache Zelte und Schlafmatten aus Plastik anbieten, Gummistiefel und Wanderschuhe, Campingkocher samt Gas-Kartuschen und Aluminiumtöpfen, sogar Fertiggerichte mit Spaghetti. Fast alles ist „Made in China”. Die kleinen dunklen Plastikfläschchen, die jedem Migranten in größerer Anzahl aufgeschwatzt werden, enthalten Ammoniak. Es soll, um das Nachtlager verschüttet, angeblich giftige Schlangen auf Distanz halten.

Die Geschäfte an diesen Ständen laufen glänzend. „Nach der Corona-Krise und den ausbleibenden Touristen sind die Haitianer ein Segen für Necoclí”, sagt die vielleicht 20-jährige Leydis, die an einem der Stände all die genannten Waren im Angebot hat. Ihren Nachnamen behält sie für sich. Sie ist Verkäuferin, der Stand gehört einem örtlichen Geschäftsmann und der soll nicht wissen, was sie so ausplaudert. Sie verdient 20.000 Pesos am Tag, ein bisschen mehr als fünf Dollar. Wenn sie Mitleid habe mit einem Migranten und ihm ein bisschen Rabatt gewähre, „dann wird das von meinem Lohn abgezogen”. Ihr Chef aber baue derzeit ein neues Haus und habe sich ein neues Auto gekauft.

Michel, ein rund 40-jähriger Haitianer aus der Provinzstadt Gonaïves, deckt sich an diesem Stand mit allem ein, was Leydis ihm für den Marsch durch den Darién empfiehlt. Er hat viele Geschichten gehört, vom Leiden im Wald und auch von den Gefahren. Er handelt nicht um Preise, er bezahlt den verlangten Betrag in Dollar. Er ist groß und feingliedrig, mit schütterem Haar und sanftem Händedruck. Auch er will beim Vornamen bleiben und keine Fotos. Irgendwann, hofft er, werde er in den USA sein, und da sei er, zumindest zunächst, ohne die nötigen Papiere. Da sei es besser, wenn man ihn nicht identifizieren könne. „Ich habe Angst vor dem Dschungel”, sagt er leise. „Große Angst.”

Die Geschichte von Michel ist die von vielen haitianischen Migranten. 2013 flog er von Port-au-Prince nach São Paulo. Dort gab es Arbeit. Man brauchte Handwerker auf dem Bau, die Fußballweltmeisterschaft stand an. In der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise wurde er entlassen. „Man muss Miete bezahlen, man braucht etwas zu essen, aber man hat kein Geld”, sagt er. Aber er hat Verwandte in den USA, und denen gehe es gut. So verkaufte er das wenige, das er besaß, und machte sich mit seiner Frau und seiner 13-jährigen Tochter auf den Weg. Für die paar Tage, die er in Necoclí auf die Überfahrt übers Meer wartet, ist er in einem Rohbau ohne fließendes Wasser untergekommen. Davon gibt es derzeit viele. Überall in Strandnähe entstehen neue Unterkünfte für Touristen. Michel bezahlt für das Zimmerchen, in dem gerade ein paar Stockbetten stehen und eine nackte Glühlampe an der Decke hängt, für einen Schlafplatz acht Dollar pro Nacht.

Die Geschichten, die die Migranten erzählen, gleichen sich. Schneider – was in Haiti auch als Vorname dient – erzählt eine ähnliche aus Chile. Der drahtige 30-jährige aus Port-au-Prince hat in der Hauptstadt Santiago in einem Supermarkt gearbeitet. „Es gab Arbeit”, sagt er. „Bis zur Pandemie.” Und was erschwerend hinzukomme: „Die Regierung verbietet, dass man die Familie nachholt.” Seine Frau, seine Schwester und seine Mutter leben in Port-au-Prince und es gehe ihnen schlecht. Deshalb will er es jetzt in den USA versuchen.

Nach dem verheerenden Erdbeben in Port-au-Prince, bei dem im Januar 2010 rund 300.000 Menschen zu Tode gekommen waren, legten die damaligen Mitte-Links-Regierungen in Brasilien und Chile humanitäre Programme auf: Haitianer bekamen eine Aufenthalts- und eine Arbeitserlaubnis. Nach den Zahlen der haitianischen Migrationsbehörde sind in der Folgezeit 236.912 Haitianer nach Chile und 32.796 nach Brasilien ausgewandert. Seit 2016 gibt es in Brasilien, seit 2018 in Chile eine rechte Regierung. Die humanitären Programme liefen aus. Zudem kamen zehntausende Migranten aus Venezuela. Die waren nicht nur besser ausgebildet und mit Sprache und Kultur vertraut, sie hatten auch keine schwarze Haut. Sie haben die Haitianer schnell aus dem Arbeitsmarkt verdrängt. Der große Treck nach Norden begann.

Zunächst waren es nur wenige. Doch dann stürzte im Frühjahr 2020 Lateinamerika im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie in eine tiefe Wirtschaftskrise. Es gab Massenentlassungen. Die Haitianer gehörten immer zu den ersten, die ihre Arbeit verloren, und es gab kein soziales Netz, das sie hätte auffangen können. Zudem wurden überall die Grenzen geschlossen. Die Haitianer saßen auf der Straße, und sie saßen fest. Doch kaum wurden die Grenzen wieder geöffnet, begann die Massenwanderung in die USA. Allein 2021 haben nach Angaben der panamaischen Grenzbehörden rund 130.000 Menschen den Dschungel des Darién durchwandert – so viele wie zusammengenommen in den zwölf Jahren zuvor.

Letzter Kontakt mit dem Staat: An der Mole für Migranten.

In Kolumbien halten sich die Migranten nur wenige Tage auf. Es gibt private Busunternehmen, die an der Südgrenze mit Ecuador warten und die Ankommenden in knapp zwei Tagen Fahrt nach Necoclí bringen. „Das ist alles ein großes Geschäft”, sagt Schneider. „Wer Geld hat, der kommt schnell voran.” Er selbst hat nur zehn Tage gebraucht, um von Santiago bis an die kolumbianische Karibik-Küste zu kommen. Nun wartet er auf die Überfahrt nach Acandí. An der Mole begegnet er zum letzten Mal einem Vertreter des kolumbianischen Staats: Ein Grenzer kontrolliert die Pässe der Migranten, die aufs Schiff wollen. Haitianer werden durchgelassen, genauso wie die wenigen Kubaner, Senegalesen oder Kameruner, die auf dieser Strecke unterwegs sind. Venezolaner werden aufgehalten.

Die Regierungen von Kolumbien und Panamá haben ein Abkommen miteinander geschlossen, nach dem Haitianer, Kubaner und Bürger afrikanischer Länder möglichst schnell durchgeschleust werden. Venezolaner aber dürfen die Grenze nicht passieren. Allein in Kolumbien gibt es mindestens eineinhalb Millionen Armutsflüchtlinge aus dem seit Jahren von einer schweren Wirtschaftskrise gebeutelten östlichen Nachbarland. Die wollen nicht unbedingt in die USA und die Regierung von Panamá befürchtet, viele von ihnen würden im Land bleiben. Die kolumbianische Regierung nennt die schnelle Abfertigung der Haitianer einen „humanitären Korridor”. Henry Lopera dagegen nennt es einen „Korridor des Todes”.

Lopera, ein entschlossen wirkender untersetzter Mann mit militärischem Haarschnitt, ist Pfarrer der katholischen Gemeinde Nuestra Señora del Carmen. Die Garage seines Pfarrhauses ist eine Anlaufstelle für Haitianer, die mittellos in Necoclí angekommen sind. „Jeden Tag kommen ein paar Familien vorbei”, sagt er. Sie werden von der Gemeinde mit Lebensmitteln und Kleidern versorgt und, wenn nötig, ins Krankenhaus begleitet. Für Kinder gibt es Spielnachmittage, „damit sie sich ein paar Stunden lang nicht wie Migranten fühlen”. Den Erwachsenen zeigt der Pfarrer auf seinem Mobiltelefon Videos vom Marsch durch den Dschungel, die ihm von anderen Migranten zugeschickt worden sind. Darauf kann man nackte Frauenleichen am Rand von Flüssen sehen und von wilden Tieren angefressene tote Körper von Kindern. Eine Schocktherapie, die nicht wirkt. „Wer einmal unterwegs ist, den kann nichts und niemand mehr aufhalten”, sagt Lopera.

288 Frauen, denen sexuelle Gewalt angetan wurde, sind in den Monaten Januar bis Oktober 2021 in einer Notfallstation von Ärzte ohne Grenzen auf der panamaischen Seite des Darién behandelt worden. Die Dunkelziffer, heißt es in einer Erklärung der Hilfsorganisation, sei wahrscheinlich um ein Vielfaches höher. Von den 288 erfassten Straftaten wurde kaum eine bei der Polizei angezeigt. Die Migrantinnen wollen keine langwierigen Ermittlungen, sie wollen weiter. Die panamaische Polizei hat im selben Zeitraum die Leichen von fünfzig Frauen, Männern und Kindern aus dem Regenwald geborgen und in Massengräbern beigesetzt. Das sei eine lächerliche Zahl, sagt Pfarrer Lopera. „Ich wage zu behaupten, dass es jede Woche fünfzig Tote gibt.”

Das Schnellboot legt von der Migrantenmole in Necoclí ab. Alle 90 Passagiere tragen Schwimmwesten. Die vier Außenbordmotoren lärmen, hart schlagen die beiden Rümpfe des Katamarans auf die Wellen. In den Sitzreihen unter dem Sonnendach wird es still. Die Männer sind in sich gekehrt, denken an das, was kommen mag. Die Frauen streicheln ihre Kinder, um sie ruhig zu halten. Nur einmal bremst das Boot scharf ab. Draußen auf dem Meer wartet ein kleines Fischerboot mit sechs Mann Besatzung. Vier davon sind Venezolaner. Sie werden vom großen Boot aufgenommen. Wieviel sie bezahlt haben? Jedenfalls viel mehr als die legalen Passagiere.

Auf der Fähre nach Acandí ist es still.

Jede Nacht stechen kleine Fischerboote mit Venezolanern vom Strand in Necoclí aus in See. Oft sind sie völlig überladen, für die Passagiere gibt es keine Schwimmwesten. Draußen auf dem Meer kann ein tropisches Gewitter mit Sturmböen und hohen Wellen solche Kähne schnell zum Kentern bringen. Es gibt keine Statistik drüber, wieviele Migranten bei solchen Unfällen ertrunken sind. Die lokalen Medien erwähnen nur wenige Einzelfälle. So wurden am 12. Oktober vergangenen Jahres 21 Menschen gerettet, dazu die Leichen von drei Frauen geborgen. Fünf Passagiere des völlig überladenen Boots sind im Meer verschwunden; darunter drei Kinder, das jüngste gerade acht Monate alt.

Auf der anderen Seite des Golfs von Urabá haben illegale Passagiere nichts zu befürchten. Der Küstenlandstrich gehört zwar zu Kolumbien, den Staat aber gibt es dort nicht. Das Dorf Acandí und sein Hinterland sind fest in der Hand der „Autodefensas Gaitanistas”. Der Strand vor Acandí ist flach. Das Schnellboot ankert gut hundert Meter vom Ufer entfernt, kleine Schaluppen bringen die Passagiere an eine Landestelle. Dort warten schon die Schlepper der Paramilitärs. Auf jedes zweite Haus ist ihr Kürzel gesprüht: AGC. Ansonsten gibt es nichts Bemerkenswertes im Dorf. Nur wenige Straßen sind gepflastert, die meisten sind von Pfützen und Schlammlöchern übersäht. Die heiße stickige Luft wird durch den Geruch von Brackwasser und verbranntem Müll noch drückender.

Bekannt geworden sind die „Gaitanistas” als der „Golf-Clan”, weil die Gegend rund um den Golf von Urabá ihr Stammland ist. Den Namen des 1948 ermordeten populistischen damaligen Präsidentschaftskandidaten Eliécer Gaitán haben sie sich nur zugelegt, um sich einen politischen Anstrich zu geben. Tatsächlich aber sind sie das mächtigste Verbrechersyndikat Kolumbiens, haben rund 2.000 Männer unter Waffen und operieren heute weit über ihr Stammland hinaus. Der Staat lässt sie weitgehend in Ruhe, weil sie Kleinbauern von Ländereien verjagen, die für große Viehzüchter, Agrarunternehmen und Minenkonzerne interessant sind. Ihre hauptsächliche Einnahmequelle aber ist der Drogenhandel – und neuerdings die Migranten.

Der Chef der Schlepper stellt sich als „El Topo” vor, was übersetzt „der Maulwurf” heißt. Er ist klein, trägt zu schlabbernden Sporthosen Gummistiefel und das Trikot eines kolumbianischen Fußballvereins. Das rappelkurze lichte Haar hat er knallig orangerot gefärbt, die Geldbündel steckt er in einen kleinen Rucksack. Wenn er mit Frauen verhandelt, leckt er sich langsam mit der Zunge über die Oberlippe. Mit Männern macht er sexistische Witze. Er hat zwei Transportmöglichkeiten im Angebot: Jeweils vier Migranten können mit ihrem Gepäck auf einen von einem Pferd gezogenen Karren. Dann dauert der Weg bis ins erste Camp rund fünf Stunden. Jeder Migrant bezahlt 25 Dollar. Die teurere Variante ist ein Motorrad. Das schafft den Weg für 40 Dollar in zwei Stunden. Journalisten, die sich vorher bei den Gaitanistas eine Genehmigung eingeholt haben, steht nur diese Variante offen und sie müssen am selben Tag – für noch einmal 40 Dollar – wieder zurück nach Acandí.

Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, und die ist kostenlos: ein Fußmarsch, der sieben bis neun Stunden dauert und in tropischer Schwüle über fast schattenlose Viehweiden führt. Sieben Flüsse müssen dabei überquert werden. Wer die seichten Stellen kennt, wird dabei nur bis zur Hüfte nass und ist ein bisschen erfrischt. Das Wasser ist klar, aber trinken sollte man es nicht. Es ist hochgradig mit Quecksilber verseucht. Weiter oben an den Flussläufen betreiben die „Gaitanistas” illegale Goldminen. Je weiter der Weg ins Landesinnere führt, desto schwieriger wird er. Die Anstiege sind von den Regenfällen der letzten Tage glitschig geworden, oft bleiben Pferdekarren und Motorräder in tiefen Schlammlöchern stecken, die groß sind wie Teiche. Dann müssen die Passagiere absteigen und zu Fuß weiter waten. Die Migranten nehmen ihr Gepäck auf den Kopf und die Kinder in den Arm oder auf den Rücken.

Auf dem Weg zum Camp gibt es an Viehgattern zwei Sperren der Paramilitärs. Dunkelhäutige Menschen werden problemlos durchgelassen. Hellhäutige werden aufgehalten und ausgefragt, bis sie den Satz sagen, der das Gatter öffnet: „El Topo schickt uns.” Nach dem zweiten Gatter beginnt der kurze Anstieg zum Camp.

Das Lager Las Tecas.

Einst war es ein Landgut, doch die Bewohner wurden von den Paramilitärs vertrieben. Von ihren Häusern sind nur ein paar wenige Ruinen geblieben. Das Land wird heute von einem mit den „Gaitanistas” verbandelten Viehzüchter als Weide genutzt. Das Camp ist eine leicht ansteigende große Wiese, die mit leeren Plastikflaschen, Papptellern und anderem Unrat zugemüllt ist. Es gibt ein paar aus Ästen und Plastikplanen gebaute Unterstände, unter denen die kleinen Zelte der Migranten vor tropischen Sturzregen geschützt sind. Rund um diese Wiese stehen ebenso schnell zusammengezimmerte Verkaufsstände, an denen noch einmal Ausrüstung für den Marsch durch den Darién angeboten wird. Dazu Wasserflaschen, Knabberzeug und Gerichte. Für ein einfaches Mahl – rote Bohnenkerne, Reis und etwas Fleisch auf einem Plastikteller– werden Preise verlangt, für die man in einem besseren Restaurant in der Hauptstadt Bogotá ein feines Menü vorgesetzt bekommt.

Wer den Dschungelpfad durch den Darién erreichen will, muss über diese Wiese. Rund 130.000 Migranten sind im vergangenen Jahr für eine Nacht dort gewesen. Die Paramilitärs verlangen von jedem 50 Dollar Eintritt. 50 Dollar, um eine Wiese betreten zu dürfen. Das ergibt für das Verbrechersyndikat einen Gewinn von 6,5 Millionen Dollar. Selbst mit dem Kind, das von einer Haitianerin in Las Tecas zur Welt gebracht wurde, versuchen die „Gaitanistas” Geld zu machen. Sie bieten Journalisten die Kopie eines mit dem Mobiltelefon aufgenommenen Videos von der Geburt für hundert Dollar an.

Am nächsten Morgen beginnt der Marsch in den Dschungel.

Las Tecas ist die Endstation für Journalisten. Die Paramilitärs wollen nicht, dass man die Migranten weiter begleitet, und es ist sicherer, wenn man sich daran hält. Für Migranten aber beginnt am nächsten Tag früh am Morgen der Marsch durch die grüne Hölle des Darién. Sie beginnt mit einem steilen Aufstieg gleich hinter dem Camp.

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Nach unseren Berechnungen gibt jeder Migrant auf den achtzig Kilometern von Necoclí bis zur Grenze mit Panamá zwischen 1.000 und 1.500 Dollar aus – für Übernachtungen, Ausrüstung, Lebensmittel, Transport, Schlepper und erpressten Wegezoll. Ein Flug wäre nicht nur viel ungefährlicher, schneller und bequemer, er wäre auch viel billiger. Von Santiago de Chile nach Mexiko-Stadt bezahlt man gut 400, bis New York etwas mehr als 450 Dollar. Warum macht das keiner? Weil bei der Einreise über einen Flughafen von Haitianern ein Visum verlangt wird, und das bekommen sie nicht. Wenn sie über Land reisen, gewährt man ihnen an der Grenze ein kurzfristiges Durchreisevisum. Wie nannte das die kolumbianische Regierung? Einen „humanitären Korridor”.

Januar 2022


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