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Ein Gift, das an die Nieren geht

Ein Gift, das an die Nieren geht

Mindestens 24.000 Menschen sind in Mittelamerika in den vergangenen Jahren an chronischem Nierenversagen gestorben. Jetzt legt eine wissenschaftliche Studie nahe, dass die Krankheit von einem Herbizid des schweizer Agrochemie-Konzerns Syngenta verursacht wird. Von Cecibel Romero und Toni Keppeler.

Auf den ersten Blick sieht Dennis Osorio nicht aus wie ein Mann im letzten Stadium einer tödlichen Krankheit. Dreißig Jahre alt ist er und kräftig. Er liegt auf dem Bett, nur mit einer Sporthose bekleidet. Ein breiter Brustkorb, feste Arme und Beine. Seine eine Hand berührt den Rosenkranz aus Plastik, den er um den Hals trägt. Die andere hängt über den Bettrand hinaus und sucht grapschend den Arm seiner dort sitzenden Schwester Ana María. „Früher war er noch viel kräftiger“, sagt sie.

Sein Blick stiert leer hinauf zum Blechdach, das von der unbarmherzigen tropischen Sonne erhitzt wird. Außer dem Bett und ein paar Plastikstühlen ist fast nichts in seiner Hütte. Ein Ventilator steht auf dem gestampften Erdboden. Er funktioniert so gut wie nie, weil es so gut wie nie Strom gibt im Haus. Hinten an der Lehmziegelwand ist ein bisschen Gerümpel aufgestapelt. Das Licht kommt durch die offene Tür.

Osorio stöhnt und röchelt, als seien seine Bronchen bis zum Explodieren gefüllt mit zähem Schleim. Die Brust schmerzt ihm, die Hüften, die Beine. Immer wieder massiert ihn Ana María; nur kurz, dann winkt er ab, weil er die Berührung nicht mehr erträgt. Er richtet sich auf und verlangt zu trinken. Die Schwester flößt ihm Saft ein von den Mangos draußen im Hof. Er schlürft, er schluckt, legt sich zurück und erbricht das eben Getrunkene. Flüsternd und in gehetzt gesprochenen abgehackten Sätzen erzählt er von Gott, den er getroffen habe. „Ich habe … einen Pakt mit ihm … geschlossen.“ Er müsse der Welt eine Botschaft bringen. Dann schließt er die Augen und röchelt und stöhnt. Die Botschaft bleibt ungesagt. „Einen Monat lang ist er schon so“, sagt Ana María. „Sein Kreatinin ist bei neunzehn“. 

Kreatinin ist das Abbauprodukt der Säure Kreatin, die die Muskeln mit Energie versorgt. Kreatin wird in Nieren, Leber und Bauchspeicheldrüse gebildet, etwa 1,5 bis 2 Prozent des Vorrats im Körper werden täglich als Kreatinin über die Nieren im Urin wieder ausgeschieden. Sind die Nieren geschädigt, wird weniger Kreatinin ausgeschieden. Der Spiegel im Blut steigt an. Ein Deziliter Blut eines gesunden Mannes enthält zwischen 0.5 und 1,1 Milligramm Kreatinin. Das von Osorio enthält neunzehn.

In Chichigalpa, einem 40.000-Einwohner-Städtchen in der pazifischen Küstenebene Nicaraguas, kennt jedes Kind den Begriff Kreatinin. Kaum jemand weiß so recht, was das ist, aber alle wissen: man stirbt daran. Täglich sind es mindestens zwei oder drei, im vergangenen Jahrzehnt über 7.000. Alle waren sie beim größten Arbeitgeber des Ortes beschäfftigt, der Nicaragua Sugar Estate Limited, die dort die Zuckerfabrik San Antonio und die Brennerei Flor den Caña betreibt, aus der einer der besten Rums der Welt kommt. Rund um die beiden Fabriken und Chichigalpa breiten sich riesige Zuckerrohrplantagen aus.

Rund 3.000 Menschen hat die Sugar Estate auf ihren Lohnlisten. Auch Dennis Osorio war dabei. Bis ihm der Betriebsarzt vor zwei Jahren chronisches Nierenversagen attestierte, im spanischen Kürzel IRC. Damals war sein Kreatininwert noch nicht einmal bei drei. Gerade vier Zuckerrohrernten hat er als Schnitter mitgemacht.

Es ist ein hartes, schweißtreibendes Geschäft: In glühender Hitze – oft sind es mehr als vierzig Grad im Schatten – gehen die Männer nach vorn gebeugt übers Feld, trennen mit einem Arm fünf oder sieben Zuckerrohre von den anderen und schlagen sie dann mit dem langen Messer in der anderen Hand ab. Die Arbeitsgruppen werden nach geernteten Tonnen bezahlt. Sechs Monate dauert die Ernte; gute Schnitter kommen auf umgerechnet rund hundert Franken im Monat.

Überall, wo es in Mittelamerika große Zuckerrohrplantagen gibt, sterben die Männer in Hundertschaften. Chronisches Nierenversagen ist eine Epidemie mit bislang bekannten Herden in Chiapas im Süden von Mexiko, in Esquintla in Guatemala, an der Pazifikküste El Salvadors, in Choluteca und Valle in Honduras, zwischen León und Chinandega in Nicaragua, in Guanacaste in Costa Rica und in Coclé in Panamá. Mindestens 24.000 Menschen sind dort im vergangenen Jahrzehnt an ICR gestorben.

„Früher traf es meist nur die Älteren, solche mit fünfzig Jahren und mehr“, sagt Carmen Ríos. Sie ist Vorsitzende von ANAIRC, einer Selbsthilfevereinigung der Nierenkranken und ihrer Angehörigen in Chichigalpa. „Heute rafft es auch die Jungen dahin; die Krankheit ist aggressiv und gewalttätig geworden.“ Ihr Vater ist an IRC gestorben, ihr Mann und ihr Bruder. Bei ihrem 27-jährigen Sohn wurde die Krankheit vor einem Jahr diagnostiziert. ANAIRC hat inzwischen erreicht, dass IRC in Nicaragua als Berufskrankheit von Zuckerrohrarbeitern anerkannt ist. So bekommen die Betroffenen wenigstens eine kleine Rente. Mit der Sugar Estate streitet sich die Vereinigung um Abfindungen.

Versorgt werden die Kranken im örtlichen Gesundheitsposten, meist nur mit Vitamintabletten und guten Ratschlägen wie „nicht rauchen“ und „kein Alkohol“. Francisco Espinosa, der Epidemologe des Postens, hat keinerlei Zweifel an den Ursachen der Seuche: „Alle haben sie für die Zuckerfabrik gearbeitet, alle waren dort Pestiziden ausgesetzt“, sagt er. „Sozialwissenschaftlich ist der Zusammenhang sonnenklar.“ Ein naturwissenschaftlicher Beweis aber fehlt und mit diesem Argument stiehlt sich die Firma aus der Verantwortung.

Einmal nur wurden 131 entlassene kranke Arbeiter mit zusammen 2,5 Millionen US-Dollar entschädigt. Die Nicaragua Sugar Estate Limited bezahlt so etwas aus der Portokasse. Die Firma gehört zur Grupo Pellas, dem weitaus größten Konglomerat aus Landwirtschaftsindustrie, Handelsunternehmen, Banken und Versicherungen in Nicaragua, im Besitz der gleichnamigen Familie. In der Firmenzentrale, ein Hochhaus mit Glasfassade im Zentrum der Hauptstadt Managua, weist Konzernsprecher Ariel Granera alle Schuld von sich. Dass da ein paar Entlassene abgefunden wurden, sei ein freiwilliges Entgegenkommen gewesen, kein Schuldeingeständnis. „Wir sind davon überzeugt, dass wir mit der Krankheit nichts zu tun haben.“ Als Beweis führt er eine Studie der Boston University School of Public Health an, die von der Grupo Pellas 2010 in Auftrag gegeben worden war.

Fünf Tage lang besuchten damals die Rechercheure aus Boston Chichigalpa. Sie wurden von leitenden Angestellten der Sugar Estate durch den Betrieb geführt und durften auch mit Arbeitern sprechen – immer in Anwesenheit von deren Chefs. In ihrem Abschlussbericht wird eine ganze Reihe nierenschädigender Pestizide aufgeführt, die auf den Plantagen der Firma verwendet werden. Es wird aber auch darauf verwiesen, dass Zuckerrohrschneiden eine schweißtreibende Arbeit bei glühender Hitze sei, bei der der Körper schnell austrockne, was langfristig zu Problemen mit den Nieren führen könne. Letztlich sei die Basis der erhobenen Daten zu schmal, um wissenschaftlich abgesicherte Schlüsse daraus zu ziehen. Granera interpretiert das so: Ein Schuld der Grupo Pellas wurde nicht festgestellt.

Carmen Ríos kennt die Liste der auf den Plantagen eingesetzten Herbizide. Vor allem zwei davon, haben ihr Agrochemie-Experten gesagt, könnten extrem an die Nieren gehen: Paraquat und 2,4-D. Letzteres wird noch immer von der Sugar Estate verwendet, Paraquat wurde nach Firmenangaben nur in den Jahren 1984 bis 1994 versprüht. Arbeiter auf den Zuckerrohrfeldern dagegen sagen, auch dieses Mittel werde noch immer eingesetzt.

Wenn Carlos Orantes in El Salvador die Bezeichnung dieser beiden Gifte hört, zuckt er wissend zusammen. Er ist Facharzt für Nierenheilkunde, ausgebildet in Kuba, und Leiter eines Forschungsteams, das im Auftrag des Gesundheitsministeriums der Krankheit mit einer groß angelegten wissenschaftlichen Studie auf den Grund gehen soll – der ersten in ihrer Art. „Chronisches Nierenversagen ist eine Zeitbombe, die unser gesamtes Gesundheitssystem in die Luft sprengen wird“, sagt er. Schon heute ist IRC in El Salvador die zweithäufigste Todesursache bei Männern, die Behandlung eines Schwerkranken kostet 80.000 Dollar im Jahr. Viel zu viel für ein armes Land.

Orantes und sein Team haben in Ciudad Romero und zwei Nachbargemeinden in der pazifischen Küstenebene fast die gesamte Bevölkerung untersucht – insgesamt 775 Männer und Frauen. Ihre Lebensgewohnheiten wurden erfasst: die Arbeit, Rauchen, Trinken. Man erforschte ihre Krankheitsgeschichten, notierte eventuelles Übergewicht und untersuchte Blut und Urin. Das Ergebnis: 25,7 Prozent der Männer und 11,8 Prozent der Frauen leiden an einer Nierenschädigung.

Üblicherweise ist chronische Niereninsuffizienz eine Folge von Zuckerkrankheit oder Bluthochdruck oder einer Kombination von beidem und wird vom 60. Lebensjahr an manifest. „Wir aber fanden ein völlig ungewöhnliches Bild“, sagt Orantes. „Die allermeisten Kranken in El Salvador haben weder Hochdruck noch Zucker und sind in der Regel viel jünger als sechzig.“ Aber alle haben eines gemeinsam: Sie sind mit Herbiziden in Kontakt; sei es auf den Zuckerrohrfeldern, die die drei Gemeinden umgeben, sei es auf ihrem eigenen Stückchen Land. Denn auch Kleinbauern setzen bedenken- und gedankenlos Agrochemie auf ihren Feldern ein.

Die wenigen Einzelfallstudien, die bislang zu dieser mittelamerikanischen Krankheit veröffentlicht wurden, gehen – mehr auf der Basis von Vermutungen denn von Beweisen – von einem ganzen Bündel von Ursachen aus: Da sei zunächst einmal die harte körperliche Arbeit in glühender Hitze, die dem Körper das Wasser entzieht und die Nieren belastet. Dazu kämen Gewohnheiten wie Rauchen, Alkoholkonsum, Ernährung mit Fastfood und Soda-Softdrinks und Krankheiten wie die in den Küstengegenden verbreitete Malaria, die ebenfalls an die Nieren geht. Agrochemie ist in diesen Studien nur eine mögliche Ursache von vielen.

Orantes aber geht nach seinen Erhebungen davon aus, „dass Vergiftungen bei der Arbeit und durch die Umwelt fundamental sind“. Alle anderen Faktoren kämen erschwerend hinzu und könnten den Verlauf der von der Chemie verursachten Krankheit beschleunigen. Nur so könne man erklären, warum es das Problem IRC auf den Zuckerrohrplantagen Kubas nicht gibt. Dort ist es genauso heiß, die Arbeit ist genauso hart und die Männer rauchen und trinken tendenziell mehr als in Mittelamerika. Aber es wird dort kein Paraquat eingesetzt und kein 2,4-D. In Kuba werden die Plantagen ohne importierte Chemie bewirtschaftet.

Erste Ergebnisse einer noch laufenden Vergleichsstudie in einer höher gelegenen Region El Salvadors weisen in die selbe Richtung. Dort wird kein Zuckerrohr angebaut, für die Pflanzen ist es zu kühl. Doch die Kleinbauern verwenden auf ihren Feldern Paraquat. Orantes stellte bei ihnen und ihren Familien einen vergleichbar hohen Anteil an Nierenkranken fest wie unten in der heißen Küstenebene.

Paraquat ist das weltweit am zweithäufigsten verwendete Herbizid und laut der Weltgesundheitsorganisation der Uno „das giftigste der Nachkriegszeit“, 28 mal giftiger als das am meisten verwendete Glifosat. 2,4-D, ein Bestandteil des von den USA im Vietnamkrieg eingesetzten Entlaubungsmittels Agent Orange, ist immerhin noch zwölf mal so giftig wie Glifosat. Ein Teelöffel voll mit Paraquat ist bereit tödlich, das Gift dringt aber auch über die Haut in den Körper ein. Und es gibt kein Gegengift oder Medikament. Wer einen Schluck trinkt, stirbt unweigerlich einen langsamen und schmerzhaften Tod.

Entwickelt wurde das Herbizid 1955 von der britischen Firma Imperial Chemical Industries, deren Agrarsparte heute zum schweizer Agrochemie-Konzern Syngenta gehört. Anfang der 1960er-Jahre wurde es unter dem Markennamen Gramoxone zum ersten Mal auf Palmölplantagen in Malaysia eingesetzt. Alles, was grün ist, tötet das Mittel schnell und effektiv ab. Stämme und Wurzeln aber werden verschont. Es wird deshalb besonders gern für das Vorbereiten der Böden vor der Aussaat verwendet – auf Zuckerrohrplantagen genauso wie auf den Feldern der Kleinbauern in Mittelamerika. Dort wird Gramoxone in jedem Laden für Landwirtschaftsbedarf frei verkauft, selbst an Kinder. „Das geht über die Theke wie ein Pfund Tomaten“, sagt der Kleinbauer Julio Reyes in Ciudad Romero in der Küstenebene El Salvadors.

Auf dem sehr klein gedruckten Beipackzettel steht zwar, dass man bei der Anwendung Schutzkleidung braucht, Gummihandschuhe und Stiefel. Aber viele der Bauern sind Analphabeten, lassen sich das Gift aus einem großen Kanister in mitgebrachte Flaschen abfüllen und haben ohnehin keine Schutzkleidung zu Hause.

Die Folgen einer akuten Paraquat-Vergiftung sind durch eine ganze Reihe von Studien belegt: Schwere Schädigung der Lungen, Nierenversagen, Störungen des Gehirns und des Nervensystems, Reizungen der Haut und der Augen, Beeinträchtigung der Zeugungsfähigkeit, erhöhtes Risiko der Parkinson-Krankheit. Aber es gibt noch keine fundierte Untersuchung über die Auswirkungen auf Landarbeiter, die über lange Zeit niedrigen Dosen ausgesetzt sind oder mehrere leichtere Vergiftungen überlebt haben. Lediglich eine im April dieses Jahres in Kanada veröffentlichte Forschungsarbeit über den Zusammenhang  von Paraquat und Parkinson’scher Krankheit erwähnt, dass sich das Herbizid „in der Niere anreichert und dort seine größte toxische Wirkung entfaltet“. Das Gesundheitsministerium in El Salvador lässt nun in Schweden Nierenproben von Patienten untersuchen, um mehr über die dort gespeicherten Gifte und ihre Wirkung zu erfahren.

In Malaysia ist Paraquat inzwischen genauso verboten wie in der Europäischen Union und der Schweiz, dem Konzernsitz des ersten und weltweit größten Herstellers. Ein Rechtsgutachten, erstellt für die Berliner Anwaltsgruppe „European Center für Constititional and Human Rights“ und für die schweizer Dritte-Welt-Lobbygruppe „Erklärung von Bern“, kommt zu dem Schluss, dass Syngenta mit der Herstellung und dem Vertrieb von Paraquat Menschenrechte verletzt. In Ländern, in denen Schutzkleidung nur schwer zu beschaffen und zu bezahlen ist und wegen der tropischen Hitze ohnehin nicht getragen wird, wo Arbeitsschutz-Richtlinien nicht existieren oder nicht durchgesetzt werden, wo es viele Analphabeten in extremer Armut gibt, dort dürfe „Syngenta Paraquat nicht vertreiben und muss geeignete Schritte gegen den Vertrieb durch Dritte unternehmen“. Rechtsgrundlage dieses Gutachtens sind die im Juni 2011 verabschiedeten UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die jedoch vor keinem Gericht einklagbar sind.

Syngenta sieht auch keinerlei Grund, Herstellung und Vertrieb von Paraquat zu unterlassen. Im Gegenteil: Im Geschäftsbericht von 2011 – Umsatz: 13,3 Milliarden US-Dollar, Gewinn: 2,15 Milliarden US-Dollar – wird für das weiterhin unter der Marke Gramoxone vertriebene Herbizid „ein Absatzplus“ vermerkt.  Eine Internetseite des Konzerns preist das Gift als „effektiv und umweltfreundlich in bezug auf Wasser, Boden und CO2-Emissionen“ und „perfekt für nachhaltige Landwirtschaft“. Was die Wirkung auf die Menschen angeht, formuliert Firmensprecher Daniel Braxton etwas vorsichtiger: „Es gibt überzeugende Hinweise aus einer Reihe publizierter Studien, nach denen Paraquat bei fachgerechter Anwendung keine wesentlichen klinischen oder Langzeitauswirkungen hat.“ Zudem bemühe sich Syngenta, vor allem in Entwicklungsländern Bauern und ihre Familien im „sicheren Umgang mit Gramoxone“ auzubilden.

Julio Reyes hat so eine Ausbildung nie bekommen. Aber Gramoxone versprüht hat der 54-jährige Kleinbauer in seinem Leben schon hektoliterweise. Zunächst an der Küste von Panamá, wo er die 1980er-Jahre in einem Flüchtlingslager der Vereinten Nationen verbracht hat, während in seiner Heimat in El Salvador der Bürgerkrieg tobte. Dort hat er zusammen mit den anderen Männern des Lagers eine Plantage mit 90.000 Kakaobäumen und 30.000 Kokospalmen angelegt. Der Boden wurde mit Gramoxone behandelt, gespritzt aus alten und oft undichten Kanistern, die auf dem Rücken getragen werden. „Ich habe mich ein paar Mal unfreiwillig in Gramoxone gebadet“, erzählt er.

1992, nach dem Krieg, kamen die Flüchtlinge aus Panamá zurück nach El Salvador, haben Land von der Regierung bekommen und Ciudad Romero und die Weiler in der Nachbarschaft gegründet. Auf seinem Feld hat Reyes weiterhin Gramoxone gespritzt. Bis er nicht mehr arbeiten konnte. „Viele meiner Freunde aus der Zeit in Panamá sind schon gestorben“, sagt er. „Sehr viele. Die allermeisten an Nierenversagen.“

Reyes ist heute ein ungewöhnlich reinlicher Mensch. Vier Mal am Tag wäscht er sich und zieht frische Kleider an. Danach desinfiziert er Hände, Unterarme und Bauch, sogar den Tisch, an den er sich setzt. Er zieht einen Mundschutz über. Das Zimmer ist frisch ausgewischt, ebenfalls mit einer desinfizierenden Lösung, das Fenster hermetisch abgedichtet. Kein Staub von außen darf eindringen. Für einen Bauern in einem armen Land sind solche Hygieneregeln nicht leicht zu erfüllen. Doch sie sind lebenswichtig. Julio Reyes ist Dialysepatient und behandelt sich selbst, zu Hause.

Vier Mal am Tag klickt er den Verschluss des Katheters in seiner Bauchdecke an einen Schlauch, der mit zwei Plastikbeuteln verbunden ist. Der leere liegt auf dem Boden und die Schwerkraft sorgt dafür, dass das verbrauchte blutreinigende Serum aus dem Bauch des Patienten abfließt. Der volle Beutel hängt über ihm an einem Galgen und liefert neues Serum nach. 25 Minuten dauert die Prozedur und Reyes wird es dabei im Inneren ganz heiß. Er schwitzt, fächelt sich Luft zu mit einem Karton.

„Seit achtzehn Jahren habe ich das Nierenleiden“, sagt er. Am Anfang hatte er Kopfweh und Schmerzen in der Hüfte, „als würde man mich in zwei Teile schneiden“. Vor fünfzehn Jahren diagnostizierte ihm ein Arzt chronische Niereninsuffizienz. Seither ging es langsam bergab. Zuletzt lag Reyes reglos und abwesend im Bett. „Ich konnte nicht einmal mehr die Augenlider bewegen“, sagt er. „Ich habe den Tod gesehen.“ Das ist gerade drei Monate her. Dann hat ihn der Nierenarzt Orantes zur Dialyse überredet. Reyes hat lange gezögert, weil er Angst hatte. „Ich wollte nicht, dass sie mir ein Loch in den Bauch machen“, sagt er. „Die Leute sagen: Wer ein Loch im Bauch hat, der stirbt.“

Das Loch und das Serum, das durch diese Öffnung in seinen Körper kommt, schenken ihm ein paar Jahre Leben mehr. Außerhalb seines Dialysezimmers merkt man ihm kaum an, dass er ein schwer kranker Mann ist. Sicher, er ist schmal und mager. Aber das sind so gut wie alle Kleinbauern in der Küstenebene El Salvadors. Er geht ein bisschen langsam und ermüdet körperlich schnell. Aber er ist hellwach und macht gerne Scherze. „Dieses Loch im Bauch“, sagt er, „hat mit ein zweites Leben geschenkt.“

Dennis Osorio in Chichigalpa bleib so ein zweites Leben verwehrt. Er ist in der folgenden Nacht gestorben. Einmal nur hat man ihn zu einer Untersuchung ins Krankenhaus gebracht in der nahen Provinzstadt León. Dort gibt es ein Dutzend Dialysebetten für Tausende von nierenkranken Patienten. Die Selbstdialyse per Schwerkraft wird von Apparatemedizinern meist abgelehnt und auch sie erfordert regelmäßig fachärztliche Betreuung. Das Gesundheitssystem Nicaraguas ist von der Nierenseuche heillos überfordert.

Osorio wurde auf dem neuen Friedhof von Chichigalpa beerdigt. Erst vor fünf Jahren wurde er auf zehn staubigen Hektar am Rand des Städtchens angelegt. Auf dem alten Gottesacker gab es keinen Platz mehr für die vielen Toten. „Wir konnten die alten Toten gar nicht so schnell ausgraben, wie neue nachkamen, sagt der Friedhofswärter Roberto José Tellez. „Achtzig Prozent sind an Nierenversagen gestorben.“ Sein Vater liegt hier und drei seiner Brüder, alle dahingerafft von IRC. Auch er hat als Schnitter auf den Zuckerrohrfeldern gearbeitet und wurde 1996 wegen erhöhter Kreatininwerte entlassen. Er gehörte zu den wenigen, die damals von der Sugar Estate abgefunden wurden. „Von den 131 leben heute noch acht oder zehn“, sagt er.

Dezember 2012


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